„Ökologie ist etwas für reiche Länder“

Der Schriftsteller Viktor Jerofejew lud die Umweltdissidenten Alexander Nikitin und Grigori Pasko in sein Moskauer Wohnzimmer zu einem Gespräch über Russlands Verhältnis zum Umweltschutz. Fazit: „In diesem Land sind sie keine Helden“

Ich kenne keine Literatur, die „ökologischer“ ist als die russische. Sie ist ganz durchdrungen von der Liebe zur Natur. Sie schreit förmlich ihre Liebe heraus. In meiner Jugend habe ich die endlosen Naturbeschreibungen immer mehr oder weniger überschlagen; sie kamen mir langweilig und öde vor. Aber später habe ich verstanden, dass Reinheit und Schönheit der Natur für den russischen Schriftsteller lediglich der Ausgangspunkt für seine seelischen Offenbarungen sind. Man kann eine Menge Beispiele anführen, aber ich nehme hier eines, das ich besonders eindringlich finde. Michail Lermontow, ein Dichter von außerordentlichem Gespür, schrieb folgendes Gedicht:

Wenn das Getreide reifend wogt am Waldessaume,
Wenn mit dem kühlen Tann der leichte Wind sich neckt,
Und wenn im Garten sich die himbeerrote Pflaume
Im Schatten eines zarten grünen Blatts versteckt,

Und wenn am rosgen Abend und am goldnen Morgen
Das Maiglöckchen, mit erstem, zartem Tau bestickt,
Unter dem Busch hervor, der zärtlich es verborgen,
Mit seinem silberweißen Köpfchen freundlich nickt,

Wenn dann dem Hang entgegenspringt die klare Quelle
Und mir, in wirren Traum mich tauchend, unverweilt
Geheime Kunde zuraunt von der schönen Stelle,
Dem friedevollen Land, aus dem sie hergeeilt,

Dann wird auch meine Seele wieder ruhig werden,
Dann glätten auch die Falten meiner Stirne sich,
Und endlich find ich wieder alles Glück auf Erden,
Und meinen Gott im hohen Himmel sehe ich.

Das ist die Quintessenz russischer Lyrik. Das ist es, was in der russischen Kultur angelegt ist: das Band zwischen wogendem Getreide, Glück und Gott im Himmel. Schnee, Regen, Pappelalleen, ein Fluss, die Sonne – all dies ist eng verflochten mit Stimmungen und seelischer Reinheit. Aber eben jener Lermontow schrieb auch die harschesten Worte über Russland: „Leb wohl, du ungewaschnes Russland …“ Ungewaschenheit, das sind nicht nur die schmutzigen Straßen und das verwahrloste Leben, das ist eine politische Metapher: „Land der Sklaven, Land der Herren …“

Das paradoxe Aufeinanderprallen von Reinheit und Ungewaschenheit ist seit je die Wurzel der Umweltprobleme in Russland. Die Russen haben Grund, stolz zu sein auf die Dimensionen der Naturschönheiten. An der längsten Küstenlinie der Welt begegnen einander Fische, Vögel und verschiedenste Tiere. Der Baikalsee enthält ein Viertel des Süßwasservorrats der Welt. Die endlose Taiga Sibiriens. Wenn du irgendwo im arktischen Norden durch die Wälder läufst, hast du den Eindruck, hier hat vor dir noch kein Mensch seinen Fuß hingesetzt. Wahnsinn, denkst du, aufs Äußerste erregt, ich bin der Herrscher über die Natur!

Zugleich spottet unsere Einstellung zur Sauberkeit von Flüssen, Wäldern und Meeren jeder Beschreibung. Woher kommt das? Wer ist schuld? Die Regierung, die den Reichtum der Natur im Namen staatlicher Macht skrupellos konsumiert? Das Volk, das in den Jahren der Sowjetmacht aufgehört hat, sich als Herr im eigenen Land zu fühlen? Denn es ist noch nicht so lange her, dass ich in der Schule die Worte des Botanikers Iwan Mitschurin wie einen heiligen Leitspruch gelernt habe: „Wir dürfen von der Natur keine gnädigen Geschenke erwarten. Wir müssen uns von ihr nehmen, was wir brauchen, das ist unsere Aufgabe.“ War das nicht die Einstellung, die zur Katastrophe von Tschernobyl führte?

Gut, mit solchen Überlegungen kann man sich leicht in den Reihen der Dissidenten wiederfinden. Die jüngste Geschichte um den Wald von Chimki, durch den die Behörden die Schnellstraße von Moskau nach Sankt Petersburg bauen wollen, ist ein Beispiel dafür. Die Verteidiger des Waldes sind Repressionen ausgesetzt. Muss man Angst haben, in Russland Umweltschützer zu sein?

In meinem großen rosa Wohnzimmer sitzen mir zwei Helden der Ökologie gegenüber, Alexander Nikitin und Grigori Pasko. Wir trinken Tee und essen Konfekt dazu. Die Helden benehmen sich zurückhaltend. Man würde nicht darauf kommen, dass ihre Aktivität in Sachen Umweltschutz ihnen so ungeheuerliche Anschuldigungen wie Spionage und Preisgabe von Staatsgeheimnissen eingebracht hat. Dass sie in die Fänge des FSB geraten, verleumdet worden, ins Gefängnis geworfen, durchs Lager gegangen sind. Sie sitzen still da, lächeln, trinken Tee. Sie sind bereit, weiter zu kämpfen, man hat sie nicht gebrochen, nicht eingeschüchtert. Starke Männer. Männer der Tat. Wofür haben sie gekämpft? Für die Sauberkeit ihres Landes. Für die Sauberkeit seiner Meere. Aber sie sind keine Helden der Nation geworden. Man kennt sie im Ausland besser als in Russland. Hier sind sie lediglich eine Randerscheinung.

Ins Deutsche übertragen von Beate Rausch.


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mare No. 85

No. 85April / Mai 2011

Von Viktor Jerofejew

Der 1947 in Moskau geborene Viktor Jerofejew gehört zu den bekanntesten Schriftstellern Russlands. Er schreibt regelmäßig in mare, zuletzt in No. 80 über ein Ferienparadies in der Ukraine. Jerofejews Reportagen sind bei marebuch unter dem Titel Der Mond ist kein Kochtopf erschienen.

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Vita Der 1947 in Moskau geborene Viktor Jerofejew gehört zu den bekanntesten Schriftstellern Russlands. Er schreibt regelmäßig in mare, zuletzt in No. 80 über ein Ferienparadies in der Ukraine. Jerofejews Reportagen sind bei marebuch unter dem Titel Der Mond ist kein Kochtopf erschienen.
Person Von Viktor Jerofejew
Vita Der 1947 in Moskau geborene Viktor Jerofejew gehört zu den bekanntesten Schriftstellern Russlands. Er schreibt regelmäßig in mare, zuletzt in No. 80 über ein Ferienparadies in der Ukraine. Jerofejews Reportagen sind bei marebuch unter dem Titel Der Mond ist kein Kochtopf erschienen.
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