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Der russische Winter hat den Fluss erstarren lassen, ein Schiff steckt fest im sibirischen Eis – und mit ihm die gesamte Mannschaft. Bisher galt das Prinzip Hoffnung. Doch dieses Mal scheint alles fraglich: Ob Boot und Crew je wieder aus Surgut wegkommen?

Aus der Stadt, die nicht Sibirien ist und doch mittendrin, aus der Stadt an den Rand. Ins Fischkombinat, wo die Hunde heulen und an Gräten nagen. Wo eine Matrjoschka sitzt im Dienstpelz, zwei Hände an der Kaffeetasse, zwei Augen auf dem Passierschein und alle Macht auf der Schranke. Frohes Fest, Kapitän, was für eine Kälte, aber wenigstens kein Wind.

Hinunter zum Schiff. Weiße Wege, stille Hallen, rostiges Gerät, schneebestäubt. Eine Kiste, Konserven, die letzte Produktion, das Haltbarkeitsdatum längst überschritten. Die Stadt lebt nicht mehr von Ölsardinen, sie lebt vom Öl. Die Gegend ringsum, zwei Deutschlands passen hinein, ist punktiert von Bohrtürmen, hier ist das größte Fördergebiet Russlands – fast die Hälfte seiner gesamten Produktion schlürfen sie aus Taiga und Tundra.

Hier ist nicht Sibirien, hier ist Surgut: Wohlstand und Größe. Stadt der Neftjaniks, der Erdölarbeiter. Die Supermärkte voll mit Südfrüchten, die Frauen in Fuchs und Zobel, die Männer in westlichem Blech, allradgetrieben. Die größten Wärmekraftwerke, die längste Brücke, die schillerndste Zukunft: Löhne wie im Westen versprechen die Firmen, in ein paar Jahren schon. Cafés heißen „Kuwait“ oder „Pipeline“, vor den Ämtern scharen sich die Völker dieses Landes, wer kann, drängt aus Verlorenheit und Chaos in diese Kälte. Drängt zum Geld.

Der Kapitän friert, er keucht vor Eile. Schwer schleppt er an Tasche und Botschaft. Nicht heute wird er sie überbringen, heute wird gefeiert. Aber die Worte sind schon bereit, die Sätze gerichtet. Also, wird er sagen, es ist beschlossen, das Schiff soll weg.

Er wird ein bisschen warten, wird ihren Groll abfließen lassen, und Irina Michailowna soll ihre Tränen ruhig erst mal trocknen. Aber, wird er dann sagen, ihr wisst ja, es gibt Möglichkeiten. Wieder wird er eine Pause machen, den Blick auf alle – auf Waleri, den Ersten Steuermann, auf Jewgeni, den Zweiten, auf den Maschinisten, den Hilfsmaschinisten, auf die Matrosen, die Putzfrauen, auf Irina Michailowna, die Köchin. Und dann wird er sagen, lauter, fest: Es liegt an uns.

Es liegt an der Lage, hatten sie gestern gesagt. Vor ihm saßen der Direktor, der Buchhalter, die gleichen wie seit 20 Jahren, und sie machten es rasch. „Wir hatten 200 Schiffe, jetzt sind es 30, und wie viele davon fahren, Andrej Nikolajewitsch, das wissen Sie selbst.“ Keine zehn, dachte der Kapitän.

Er dachte an die vielen Male, wo er, die rote Flagge mit Stern und Sichel noch am Bug, die Wege ohne Ladung gemacht hatte – es gab halt nichts zu transportieren. Außer natürlich die Größe der Sowjetmacht, da war kein Schiff überflüssig. Heute kaufen sich die großen Firmen ihre eigenen Boote, größer, schneller, wendig genug, um selbst die Nebenflüsse zu meistern. Die vom Öl bauen sogar ihre eigenen Häfen, mit dem Hubschrauberlandeplatz am Kai. „Kurz“, sagte der Direktor, „falls Sie es immer noch kaufen wollen, dann nur zu.“

Endlich der Fluss. Ein Feld aus Eis,  das Mond und leuchtender Schnee der Dunkelheit abtrotzen. Sichtbar das andere Ufer, die Insel, nichts Lebendiges. Oder doch – Musik, Rauch. Der Blick über die Kaimauer: Dort unten liegt es. Der Kapitän steigt die Leiter hinab, an Bord. Bis hierher schafft es die Stadt nicht, mit keinem Ton. Der Kapitän öffnet die Tür, tritt in den Schwall aus Licht und Wärme.


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mare No. 37

No. 37April / Mai 2003

Eine Reportage von Maik Brandenburg

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

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Vita Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.
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