Notizen einer Landratte, 51.

Unser Kolumnist Maik Brandenburg fuhr kürzlich im Zug, wo ihm das Denken über Wichtiges leichtfällt, und traf auf ein vorlautes Kind, das Walforscher werden will. Er nahm die Herausforderung des kleinen Störenfrieds an

Ich habe gern meine Ruhe im Zug, nirgendwo kann ich besser nachdenken. Ich pushe dann die Quantentheorie voran, zeichne im Kopf den Bauplan für ein Gezeitenkraftwerk in der Ostsee oder löse den Nahostkonflikt, so was erledige ich zwischen Abfahrt und erstem technisch bedingtem Halten. Wenn ich im Zug nachdenken kann, haben alle etwas davon, ich und die Menschheit.

Nachdenken geht aber nur, wenn ich Ruhe im Zug habe. Weil es allen nützt, ist mir dafür jedes Mittel recht. Da kann ich brutal sein, selbst zu Kindern, meist sind ja Kinder die Störenfriede. Aber man kann ihnen beikommen.

Ich sitze also im Zug von Rügen nach Hamburg und stehe kurz vor dem entscheidenden Durchbruch, ein Mittel gegen Schnupfen zu erdenken. Da setzt sich auch schon ein etwa sechsjähriger Junge mit seiner Mutter zu mir und niest – für meine Begriffe übertrieben verschwenderisch – auf meine Jeans. Das zeigt erstens, wie sinnlos es ist, sich teure Jeans zu kaufen. Und zweitens, wie wichtig mein Nachdenken über das Thema Schnupfen ist. Oder war, denn mit der Ruhe ist es ja jetzt vorbei. Während ich den Flatsch von meiner Hose wische, beginnt der Junge den Hauptteil seines Programms: Er fragt dies, er erklärt das, er zieht geräuschvoll die Nase hoch. Dann fragt er dies, erklärt das und so weiter, ohne Pause.

Die Mutter ist natürlich hin und weg von ihrer Rotznase und sieht stolz in die Runde. Gut, sagt ihr Lächeln, er mag etwas nerven, aber er ist ein Genie. Eines Tages wird er Wissenschaft und Technik revolutionieren, da kann man ruhig ein paar Opfer bringen. Sie ahnt nicht, dass ich das mit der Revolution längst selber mache. Mehr Opfer sind also nicht nötig. Darum läuft jetzt mein Manöver „Peacemaker“ an, und ich frage: „Na, Schietti, was willst du denn mal werden?“

Der Junge weiß das selbstverständlich längst, darum kommt seine Antwort wie aus der Harpune geschossen: „Walforscher!“ Na klar. Die Antworten sind immer die gleichen, Kinder von der Küste wollen entweder Walforscher werden oder Tierarzt für Delfine. Oder Schneider, weil sie dann warme Pullover für Pinguine stricken können. Was ist eigentlich aus dem ehrenwerten Berufswunsch „Pirat“ geworden? Ich wollte als Kind noch hanseatische Pfeffersäcke in Vollzeit verprügeln, wie Störtebeker. Pirat will heute aber keiner mehr werden, das ist das Ergebnis der jahrelangen Bildungspolitik unter Angela Merkel. Die ist übrigens, nur nebenbei, eine gebürtige Hamburgerin.

Walforscher also, was haben wir denn da? „Toll, da kannst du ja gleich ein Riesenwattestäbchen erfinden“, sage ich. „Wegen des Ohrenschmalzes. Blauwale haben nämlich eimerweise davon. Wahrscheinlich eine Tonne. Und je älter sie sind, desto dicker ist es.“ Schietti ist jetzt ganz Ohr. „Am Ende kommst du nur mit dem Pressluftbohrer durch seine Gehörgänge. Streu aber ein paar Krümel für den Rückweg.“ Der Junge stutzt, dann sieht er auf seine Tüte Popcorn, macht sie zu und steckt sie in seinen Rucksack. Leise ist er schon mal.

„Und weil wir gerade bei Blauwalen sind“, fahre ich fort, „sie haben den größten Penis aller Lebewesen. Vier Meter.“ Der Junge stiert offenen Mundes. „Was ist denn ein Penis?“, fragt er atemlos. Herrje, denke ich, alle Versäumnisse der Bildungspolitik kann ich auf einer Zugfahrt auch nicht wettmachen. „Das ist ja ein dickes Ding“, raune ich zweideutig mit Blick auf die Mutter. Soll die es ihm erklären. Die Mutter fingert bereits an ihrer Halskette, ein springender Delfin. „Tja, Delfine“, fahre ich fort. „Delfine sind ja längst nicht so niedlich, wie man glaubt. Sie sind Vergewaltiger. Sie stecken ihren Penis in alles, was nicht bei Drei auf den Korallen ist. In die Atemlöcher ihrer Artgenossen, in tote Fische, selbst in Gummistiefel und Abflussrohre.“

Jetzt vergisst das kommende Genie sogar, seine Nase hochzuziehen. Zeit für den Gnadenstoß. „Und weißt du, was Pinguindamen machen? Sie prostituieren sich. Das ist nicht mal das Schlimmste. Schlimm ist: Sie tun es für Kieselsteine. Edelsteine wären okay, machen ja auch Menschenweibchen, frag Mama. Aber Kieselsteine?“

Meist ist es jetzt sogar im gesamten Abteil still. Ohrenbetäubend still. Wie gesagt, es geht um Ruhe, es geht um die Wissenschaft. Ich tu es für die Menschheit.

 

mare No. 129

August / September 2018

Von Maik Brandenburg

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

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