Notizen einer Landratte, 22.

In dieser Folge schildert unser Kolumnist Maik Brandenburg, wie ein Gespräch mit einem wahnsinnig gewordenen Redakteur ihn lehrte, die Klippen der Metaphorik sicher zu umschiffen

Der Mann stand auf den Klippen. Er stand eindeutig zu nahe. Ein paar Schritte, dann würde er hinunterstürzen. „Was tun Sie da?“, rief ich. „Kommen Sie zurück!“ Er blickte zu mir herüber. „Ich frage Sie“, antwortet er ruhig, „ich frage Sie: Was macht die Brandung?“ Ich stutzte. „Sie schlägt ans Ufer“, vermutete ich. „Herrje“, seufzte er, „war ja klar. Und was machen die Schiffe?“ Ich überlegte wieder.

„Ich helfe Ihnen“, sagt er. „Sie wiegen sich auf den Wellen.“

„Von mir aus“, rief ich, „aber kommen Sie da weg! Sie sind ja verrückt.“

Ein trauriges Lächeln spielte um seine Lippen. „Schon möglich, ich bin Redakteur“, sagte er leise. Dann sah er wieder aufs Meer. „Aber nicht mehr lange.“ Jetzt lächelte er.

„Um Himmels Willen, was reden Sie da?“, fragte ich. „Sehen Sie nur, wie herrlich die Sonne im Meer versinkt.“

„Natürlich versinkt sie“, sagte er. „Das ist es ja. Immerzu versinkt sie.“

„Na und?“, fragte ich. – „Könnte sie nicht wenigstens einmal vergrmpfen?“, fragte der Mann zurück.

„Ver… grmpfen?“

„Ja. Oder einzwutschen, abgrieseln, unterprutzen.“ Er stieß seinen Fuß gegen ein Steinchen, das über den Rand in den Abgrund flog. „Alles wäre besser, als dass sie immer nur versinkt.“

„Könnte das Meer nicht mal frmtsen, statt immer nur zu funkeln?“, fügte er verträumt hinzu. „Oder wummzotteln?“

„Wie bitte!?“

„Wummzotteln, ein wunderschönes Wort, nicht wahr?“ Er wendete seinen Blick von mir und sah wieder hinaus. Da lag das Meer, glitzernd im frühen Abendlicht. Der rote runde Schein der Sonne spiegelte sich auf den Wellen, dass sie wie ein Feuerball auf ihnen zu tanzen schien. Der Wind pfiff jetzt gehörig.

Der Mann sah mich betrübt an. „Ich weiß, was sie eben dachten. Sie dachten: Die Sonne scheint wie ein roter runder Feuerball auf den Wellen zu tanzen.“ Ich murmelte irgendwas. „Ja, ja, das denken sie alle“, rief er. „ich kann es nicht mehr hören, ich mag es nicht mehr lesen.“ Er war noch einen halben Schritt näher an den Abgrund getreten. Mir stockte der Atem. „Wissen Sie, wie oft ich heute in Manuskripten lesen musste, dass das Meer jeden Tag ein anderes ist?“ Ich schüttelte den Kopf. „Viermal, allein heute!“

Die See schäumte, ein Sturm zog auf. „Na los“, sagte der Mann, „geben Sie es zu! Sie sehen die Wogen an die Felsen schlagen, dass die Gischt aussieht wie Flocken von Schnee, stimmt’s?“

„Dafür muss ich mich aber nun wirklich nicht schämen!“, rief ich. „Das ist Fontane, ‚Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee‘, ‚John Maynard‘.“

„Eben“, sagte der Mann, „das ist Literatur. Das hat ein anderer erdacht.“ Er sah in die Flut. „Es sollte einen Kopierschutz geben für Metaphern!“, schrie er plötzlich in den tosenden Wind. „Und Verkaufsverbote für Phrasen. Und Abschussprämien für langweilige Attribute.“ Voller Verachtung wandte er sich mir zu. „Tosender Wind, natürlich, tosend. Der Wind tost, der Sturm tobt, die Orkane brüllen.“ Sein Gesicht war jetzt eine höhnische Fratze. Mit einem halben Fuß stand er bereits über der Tiefe. In einem Moment absurder Hoffnung sah ich auf seinen Rücken. Erwartete ich wirklich, dort einen kleinen Rucksack zu entdecken, einen kleinen Fallschirm?

„Und jetzt frage ich Sie“, schrie er gegen die donnernden Blitze, gegen den entfesselten Orkan. „Wie beschreiben Sie den Schrei einer Möwe?“ Er wartete die Antwort nicht ab. Langsam kippte der Mann nach vorne weg, gleich einem Stein fiel er hinab. Momente später schlug er aufs Wasser, das ihn sofort verschluckte.

Augenblicklich legte sich der Sturm. Unschuldig rollten kleine Wellen gegen die Felsen. Und da stieg auch schon das Abendrot in den glutfarbenen Himmel. Wie Flammen loderten die Wolken, wie flüssiges Blei lag das Meer, über dem die ersten Sterne ihren schimmernden Glanz verstreuten. Als hätte ein Maler seine Palette verschüttet, so verliefen sich Abertausende Farben. Goldgelben leuchtete ein ferner Strand, Diamanten blitzten zwischen den Wellen. Ein paar Blätter meiner neuesten Reportage, die der Mann in den Händen gehalten hatte, segelten sanft aufs Wasser, gerade dort, wo er verschwunden war. Und wie zum letzten Gruß tat eine Möwe ihren heiseren Schrei.

mare No. 99

No. 99August / September 2013

Von Maik Brandenburg

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen..

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