Notizen einer Landratte, 13.

In dieser Folge schert sich unser Kolumnist Maik Brandenburg einmal nicht um Heimlichkeiten und träumt sich zu verbotenen Lustbarkeiten in Lack, offenbart den Namen des Teufels und den Grund, warum er kein Pope wurde.

Wir saßen auf den Lastwagen und froren, die Kalaschnikows zwischen den Knien. Irgendwann begann immer jemand über seine Reisen zu erzählen.

Es war die Zeit meines Wehrdiensts, ich verbrachte ihn mit Seeleuten. Die meisten kamen aus Sachsen oder Thüringen, dem meerfernen Süden der DDR. Eigentlich waren es Seeleutchen – denn kaum hatten sie zwei Törns mitgemacht, folgte die Einberufung. Dennoch saßen hier, auf den Lastwagen, nur Cooks und Ahabs.

Sie hatten Stürme überstanden, Monsterwellen, Karambolagen mit Walen und U-Booten. Sie hatten es knapp durchs Bermudadreieck geschafft, den Angriff von Piraten und Sackratten* überlebt, außerdem den Skorbut und die Pest vor Madagaskar. Alles auf einer Fahrt oder zweien.

Sie sprachen von den Qualen des Leichtmatrosen: die engen Kajüten, die Langeweile zwischen den Horizonten, die argwöhnischen Blicke zum Himmel, wenn er sich verdunkelte. Sie fluchten über das ständige Deckschrubben, das Rostklopfen, sie schimpften auf fiese Bootsmänner, unfähige Alte und auf Smutjes, die eigentlich Schädlingsbekämpfer waren. Sie beschrieben die verwichsten Klos, den Gestank und die tagelangen Orgien des Erbrechens, sie lächelten dabei.

Und wenn sich später zeigte, dass vieles erstunken und erlogen war oder dass es andere erlebt hatten oder dass es gnadenlos übertrieben war – trotz allem, es war wunderbar, ihnen zuzuhören. Die Lastwagen waren Amphibienfahrzeuge, mit denen ich übers Meer fuhr. Hier ließ sich vieles vergessen, vor allem die Kälte und die Kalaschnikow zwischen den Knien.

In den Häfen warteten die Bräute aller Hautfarben und Körbchengrößen, es gab stets ein großes Hallo, wenn man auf gemeinsame Bekannte stieß: „Was, du kennst Carlita aus Caracas auch?“ Einige Namen wurden ehrfürchtig geraunt, man schmeckte ihnen nach wie Schlucken von edlen Weinen: Hmm, Sara aus Sansibar, ah, Monica aus Manila.

Am meisten faszinierten mich die Berichte von der „Rue de Galopp“. So nannten sie eine Straße in Santos, sie muss so etwas sein wie die Reeperbahn auf brasilianisch. Die rauen Seebärchen auf meinem Lkw hatten Tränen in den Augen, wenn sie vom Churrasco erzählten, vor allem, weil sie dabei ihre Bajonette in die Dauerwurst stachen. Sie redeten vom „Griechen“, von der „American Star Bar“ und natürlich von den Mädchen, die gar nicht anders konnten, als den harten, im sozialistischen Wettbewerb gestählten Jungs aus Zeitz oder Zeulenroda zu Füßen zu liegen. Vor allem Luana schien eine Teufelin zu sein, so mit ihren roten Haaren und in den Lackstiefeln und wegen ihres … – hier stöhnte, seufzte oder schnalzte der Erzähler mit der Zunge, je nachdem, wer gerade von Luana berichtete.

Ich bin sicher, die halbe Crew der DDR-Handelsflotte, Gott hab sie selig, wird sich an die „Rue de Galopp“ erinnern. Ich muss da irgendwann mal hin, schon wegen der roten Luana und ihres Geheimnisses.

Damals aber beschloss ich, Pope zu werden. Popen – so hießen die Politoffiziere auf den Schiffen. Wenn über sie geredet wurde, dann leise und nicht viel. Eigentlich nur, dass sie kaum zu sehen waren, weil sie in ihren Kajüten hockten, aus denen gerade das Klappern der Schreibmaschinen drang. Das war’s doch! Ich dachte mir das Leben eines Popen sonnig und wolkenlos. Ich würde herumkommen und noch Geld dafür kriegen. Und dann würde ich den ganzen Tag wilde Reisegeschichten schreiben und mir Cocktails in die Kajüte bringen lassen. Ich würde wie Hemingway sein, nur auf der richtigen Seite.

Ich wusste noch nicht, dass die Popen verhasst waren. Keiner traute ihnen über den Weg, denn die Popen waren die Gesinnungswächter an Bord. Sie schrieben Berichte über jeden Einzelnen, vor allem über dessen Verhalten in Feindesland. Ein Pope konnte Seefahrerkarrieren beenden, selbst der Kapitän fürchtete sich vor ihm.

Ich wurde kein Pope. Ich fiel vom Glauben ab, als ich kurz nach der Armeezeit das erste Mal tatsächlich auf einem Schiff fuhr. Zum Glück hatte ich meine besten Törns da ja schon gemacht.
* Fragen Sie den Maat oder Matrosen Ihres Vertrauens

mare No. 90

No. 90Februar / März 2012

Von Maik Brandenburg

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

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