Notizen einer Landratte, 10.

In dieser Folge erbaut unser Kolumnist Maik Brandenburg den Fischern seiner Heimat ein Denkmal, zeigt Verständnis für Rügen aus Rügen über Fisch aus Bayern und erklärt, wie er lernte, auf Kaugummi zu verzichten

Erinnert sich noch wer an Hermann Masuhr? Wo einst sein Kutter lag, schaukeln jetzt die Yachten. Es stinkt nicht mehr nach Fisch, es riecht nach Geld. Was hätte Hermann dazu gesagt? Vermutlich wäre er schweigend auf sein Boot gestiegen und abgedampft. Kurz nach der Wende ist er gestorben. Kurz nachdem sie das Kombinat dichtgemacht, die Boote verhökert und die Kräne eingemottet hatten. Der Netzboden, in dem die Fischer ihr Zeug flickten, war schon abgerissen. In ihre Werkstätten waren die ersten Läden und Cafés gezogen. An den Pollern hingen die ersten Werbeplakate. Und auf dem Kistenplatz stand Hermann Masuhrs Enkel mit Elektrobuggys, drei Runden für eine Mark. Der Enkel hatte sein Steuermannspatent gegen eine Lizenz für Schausteller getauscht. Hermann Masuhr ist still gestorben, und wahrscheinlich war dies sein Kommentar zu all dem.

Dabei konnte er auch anders, richtig laut sogar. Ich habe die Szene noch vor Augen: Es war bei einem Betriebsfest, sie hatten die Räuchertonne auf dem Fußballplatz aufgebaut. Hermann Masuhr stand daneben und hängte den Fisch in den Qualm. Um ihn herum war Trubel, es war laut, doch seine Worte übertönten alles. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, ich weiß auch nicht mehr, was er sagte, doch es war deftig. Es war eine wüste Beschimpfung, die sich als verbale Sturzsee über den Bolzplatz ergoss. Treffen sollte sie nur einen Mann: einen Hünen, der knapp vor ihm stand. Hermann Masuhr tobte, er schrie, er tanzte um die Tonne wie ein an Land verirrter Klabautermann. Er war der Käpten Hornblower des Ostblocks, während der Riese schrumpfte und schrumpfte und am Ende nicht mehr da war. Begraben unter den schönsten Seemannsflüchen aus tausend Jahren christlicher Seefahrt.

Es handelte sich, gar nicht nebenbei bemerkt, bei dem Riesen um einen Offizier der Staatssicherheit. So einen beleidigte man nicht ungestraft in aller Öffentlichkeit. Hermann Masuhr aber blieb ungeschoren. Niemand konnte ihm was. Er hatte immer die besten Fänge gemacht. Er hatte die trickreichsten Methoden ausgetüftelt, fettschwänzige Heringe in Reusen zu locken. Er war Held der Arbeit und Verdienter Aktivist. Auf den Demonstrationen zum 1. Mai zog er extra einen Wagen hinter sich her, auf dem all seine Orden lagen. Und wahrscheinlich war er der Einzige, der diesen Stasi-Mann unter den Tisch trinken konnte.

Das Letzte stimmt wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich trank er nicht mehr als andere Fischer. Aber Hermann Masuhr ist jetzt mein Monument – das Bildnis aller Fischer meiner Heimat. Als solches trinkt er „Timm’s Sauren“ und „Goldkrone“ und streitet über das richtige Mischungsverhältnis des „Bärenfangs“. Hier trägt er dicke Gummistiefel, eine ölfeste Joppe und braune „Manchesterhosen“, wie wir damals sagten. Hier hat er vor nichts Angst, außer davor, sein Seefahrtsbuch zu verlieren. Das war eine Art politisches Führungszeugnis für Seefahrer. Schon darum dürfte er nicht viel getrunken haben, man verquatschte sich zu leicht.

Einen Seesack hatte er auch, darin die Schätze einer Welt, die ich nicht erreichen konnte. Selbst jener Welt, die vor meiner Nase lag: Es war der Intershop in der Bahnhofsstraße, wo man für Devisen einkaufen konnte. Die Fischer und Seeleute hatten dieses „Westgeld“. Sie kauften davon Schokolade in bunter Folie und echte Jeans und Schnaps in Flaschen, die aussahen wie die, in der Ali Baba den Dschinn gefangen hielt. Und wenn Hermann nach langem Törn von See kam, schwankte er. Dann setzte er sich ins „Seemannsheim“ und kippte seinen Schluck, bis er wieder gerade stand.

Es gibt noch Fischer, da wo ich wohne. Irgendwo am Hafenrand liegen ihre Kutter. Ich sehe sie nicht; der bärtige Seebär mit der Schiffermütze und der Tabakspfeife fährt Touristen im Kreis, er ist so echt wie die Gipsmatrosen im Schiffsausrüster, genau zwischen der Pizzeria und der Kaffeerösterei, wo mal die Motoren repariert wurden. Ich bemerke sie, wenn sie wieder einmal auf eine neue EU-Quote für Heringsfänge schimpfen. „Angler dürfen mehr rausholen“, sagt dann einer in der Zeitung. In den Fischläden gibt es Rollmops, Lachs, Matjes, Bückling, Kabeljau. „Die Hälfte davon kommt mit dem Lkw“, sagt die Verkäuferin. „Aus Bayern“, ruft ihre Kollegin, „so sieht das aus!“

Ich erinnere mich an Hermann Masuhr. Er hatte mir eine gelangt, als ich als Kind an den Volvos, die in langer Reihe auf die Fähre nach Schweden warteten, um Kaugummis bettelte. „Muss nich’ sein“, hatte er noch gesagt und ist weggegangen.

mare No. 87

No. 87August / September 2011

Von Maik Brandenburg

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

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