Nordsee – Marokko und zurück

In Tétuan pulen 1600 Frauen die Krabben unserer Küsten – ökologischer Unsinn und Armutsbekämpfung zugleich

4 Uhr

Dunkelheit über Marokko. Ein Industriegelände am Stadtrand von Tétuan. Es ist vier Uhr morgens, Licht schimmert aus Gebäuden, die aussehen wie Kartonschachteln mit Löchern, umzäunte und ummauerte Kartonschachteln.

Ein blaues Metalltor wird knarrend zur Seite geschoben. Zwei Lastwagen stehen auf dem Hof, die Kühlungen surren monoton. Die Ladetür des einen fällt schwer ins Schloß, wird verriegelt. Der Motor geht an, die Scheinwerfer strahlen in die Nacht, der Wagen rollt los, holpert über eine desolate Straße, die man eher Piste nennen sollte. Knapp 3000 Kilometer liegen vor ihm. Das Ziel der Fracht: Zoutkamp unweit der niederländischen Nordseeküste.

Neonlicht flutet aus dem hinteren Teil der Fabrik, Männer in blauen Overalls und hohen Gummistiefeln schlurfen die Fassade entlang. Es wird geputzt, wie jede Nacht. Im Innenraum schrubben die Männer weiß geflieste Wände, meterlange Steintische, den Fußboden einer großen, kalten Arbeitshalle, die an einen riesigen OP-Raum erinnert, ein wenig gar an eine Leichenhalle, der Kälte wegen. Das Wasser schwappt bis in den Hof. Es stinkt nach totem Fisch.

8 Uhr

Ismas Hände arbeiten schnell. Vor der vierzigjährigen Frau liegt ein Berg ungeschälter Krabben. Mechanisch dreht sie einem der rötlich-grauen Tiere den Panzer ab und wirft ihn danach in eine blaue Plastikschale. An ihrem Tisch sitzen zwanzig Frauen, alle in weiße Schürzen gehüllt, Mundschutz im Gesicht, unterscheidbar auf den ersten Blick nur durch die Nummern, die sie auf dem Rücken tragen. Nummer reiht sich an Nummer, dutzendfach, hundertfach. In der Halle sind 800 Frauen damit beschäftigt, Krabben von ihren Panzern zu trennen. Es ist acht Uhr morgens, vor drei Stunden begann ihre Schicht.

Krabben wollen Kühle haben, bei Raumtemperatur zerfiele das Eiweiß. Also muß bei 15 bis 17 Grad gearbeitet werden. Isma trägt dicke Socken in ihren Gummistiefeln und mehrere Lagen Kleider. Über ihr Kopftuch hat sie ein blaßrosa Häubchen gebunden, hygienische Maßnahme und Erkennungsmerkmal in einem. Je hundert Frauen bilden eine Gruppe, und jede Gruppe hat ihre eigene Häubchenfarbe.

Zur gleichen Zeit sind in Europa 45 Lastwagen der Firma Heiploeg unterwegs. Rund um die Uhr fahren sie ungeschälte Nordseekrabben nach Süden und geschälte nach Norden. Die Tiere, von dänischen, deutschen und niederländischen Fischern gefangen, werden in der Zentrale in Zoutkamp in die Lastwagen verladen und dann auf ihre Reise durch Holland, Belgien, Frankreich und Spanien nach Marokko geschickt.

9 Uhr

„Krabben schälen ist das einzige, was ich kann.“ Fatima lacht und baut die Sitzbänke, die an den Wänden entlang stehen und nachts den Kindern als Betten dienen, schnell wieder um, verteilt Tücher und Kissen auf den Bänken. Vor dem Zimmer stehen Pantoffeln in allen Größen: Hausschuhe für die Gäste. Und die sind zahlreich. Schon am frühen Morgen kommt eine Nachbarin hereingeschlüpft, trinkt mit Fatima heißen Tee mit Minze. Kinder stürmen herein, fremde und die eigenen beiden.

Die junge Frau ist üppig, ihr runder Körper strahlt eine Sinnlichkeit aus, wie sie nur selbstbewußte Frauen kennen. Volle Lippen, perfekt geschminktes Gesicht, ein warmes Lächeln. Wenn sie lacht, wirft sie den Kopf nach hinten und gluckert tief. Sie stammt aus einem kleinen Dorf nahe der algerischen Grenze. Mit 14 hat sie geheiratet. „Ich habe ihn immer im Kaffeehaus sitzen sehen. Er war ein schöner Mann.“ Der schöne Mann hatte ein Problem: Er trank. Die Religion verbietet den Alkohol, eigentlich. Zehn Jahre Ehe, zwei Kinder. Vier Wochen nach der Geburt der Tochter stolperte er eines Nachts nach Hause, volltrunken wie meist, und in Begleitung. „Mitten in der Nacht kommt er und stellt mir die Zweitfrau vor! Ich wollte ihn aber nicht teilen. Eine von uns beiden mußte gehen!“ sagt Fatima bitter. Der Gatte tobte und schrie, Fatima verließ ihn am nächsten Morgen und floh zu ihren Eltern. „Fünf Dirham hat er mir mitgegeben, fünf Dirham!“ Umgerechnet eine Mark. Von einer Verwandten erfuhr sie von der holländischen Fabrik in Tétuan. Dort müsse man weder lesen noch schreiben können, und sie würden auch geschiedene Frauen beschäftigen.

Sie hat Glück gehabt. Der Job in der Krabbenfabrik ist begehrt und anständig bezahlt. Mit den 300 Mark, die sie monatlich verdient, kann sie sich und die beiden Kinder einigermaßen ernähren. Seit vier Jahren fährt sie täglich mit dem Bus zur Fabrik, eine Woche Frühschicht, eine Woche Spätschicht. Ihr früherer Mann hat kürzlich bei ihren Eltern angefragt, ob sie nicht wieder zu ihm zurückkehren wolle. Sie will nicht. „Ich liebe ihn noch immer, aber heiraten werde ich keinen Marokkaner mehr.“ Lieber träumt sie davon, daß sie eines Tages auswandern wird. Nach Spanien, in dieses reiche Land, das 14 Kilometer von Marokko entfernt liegt, wo die Männer nur eine Frau haben dürfen und angeblich nicht trinken.

10 Uhr

Isma steht vor einem Tisch, ihr gegenüber sitzt eine Frau in einem blauen Kittel, ein Buch vor sich, den Kugelschreiber in der Hand. Sie nimmt Ismas Schale entgegen und stellt sie auf die Waage, trägt das Gewicht auf das Gramm genau ein. Bezahlt wird nach Leistung. Zwölf Dirham werden für das Kilo bezahlt, und es liegt erheblich am Geschick und der Geschwindigkeit der Arbeiterin, wieviel Kilo sie an einem Tag schafft. Zwischen sieben und neun Kilo sind die Norm, es gibt routinierte Frauen, die mehr als zehn schaffen. Manche geben nur vier Kilo ab.

Mohamed Jabli schiebt die Glasscheibe beiseite, die das Büro von der Halle trennt. Er lehnt sich vor und ruft einer der Frauen etwas zu. Gelächter auf beiden Seiten. Das Büro ist erhöht, die zwei Männer, die in dem Raum sitzen, haben einen guten Überblick. Rachid Fakir sitzt an einem kargen Tisch, eine Schachtel Marlboro vor sich. Der Aschenbecher quillt über, ein paar Akten liegen daneben. „Sie arbeiten acht Stunden gegen den Tod.“ Harte Worte, aber Rachid weiß, wovon er spricht. Er kennt die Lebensgeschichten der meisten Frauen. Knapp die Hälfte ist geschieden, bei anderen sitzen die Männer im Gefängnis – meist wegen illegalen Drogenanbaus –, oder sie sind ganz einfach arbeitslos. Fast alle haben Kinder, kaum eine einen Mann, der gewillt oder in der Lage ist, für die Familie aufzukommen.

Isma kehrt zu ihrem Platz zurück, eine neue Schale mit Krabben in den geröteten Händen. Sie bewegt sich langsam. Nun ist deutlich zu erkennen: Die Frau ist hochschwanger. In ein paar Tagen wird sie ihr zwölftes Kind zur Welt bringen.

11 Uhr

Die Gasse steht unter Wasser. Es ist braun und riecht nach Erde und Kloake. Kinder lungern in Hauseingängen herum, Fatima geht an ihnen vorbei, eine leere Plastiktüte in der Hand. Auf der Hauptstraße sind zwei Marktstände aufgebaut, Händler aus den Dörfern verkaufen frisches Gemüse. Angelaufenes Fleisch liegt auf einem Holzbrett, Fatima sucht sich ein Stück aus. Bezahlen kann sie heute nicht, erst am Anfang des nächsten Monats wieder. Der Händler notiert eine Zahl in ein zerknautschtes Heft. Zahlen lesen hat Fatima gelernt.

Die Tochter trägt eine halbe Melone nach Hause, huscht in den dunklen Eingang und geht an einem Vorhang im Treppenhaus vorbei, hinter dem sich die sechs Quadratmeter große, fensterlose Behausung der Nachbarin und deren kleinem Sohn verbirgt. Sie zieht die durchnäßten Schuhe aus, schlüpft in die Pantoffeln. Neben dem einen Zimmer gibt es eine winzige Küche. Kein Bad, kein WC. Ein Eimer steht im Flur, mehrmals täglich wird der Inhalt in einen Graben in der Gasse gekippt. Duschen kann die kleine Familie im Hamam, dem öffentlichen Bad.

Man hört Gekicher aus dem Zimmer. Fatima hat eine Tom&Jerry-Videokassette in den Rekorder eingelegt. Drei Frauen sitzen um den Tisch herum und schauen auf den Fernseher, der viel zu hoch über ihren Köpfen steht. Das Bild flimmert, die Qualität des Tons ist lausig. Keine empfindet das Gerät als Luxus, ein Fernseher gehört zur Grundausstattung.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 13. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 13

No. 13April / Mai 1999

Von Zora del Buono und Heike Ollertz

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist mare-Kulturredakteurin. Ihre letzte Reportage, die sie über eine Schwulen-Kreuzfahrt schrieb, erschien in No.9.

Heike Ollertz, Jahrgang 1967, lebt als freie Fotografin in Berlin. Ihr erster Kurzfilm, Der Staub der Stadt, lief 1998 auf der Berlinale. Für mare fotografierte sie u. a. die Strandsegler von Sankt Peter Ording (in No. 11). In mare No. 12 porträtierten die beiden das Fischlokal „Gandori“ in Tanger

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Vita Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist mare-Kulturredakteurin. Ihre letzte Reportage, die sie über eine Schwulen-Kreuzfahrt schrieb, erschien in No.9.

Heike Ollertz, Jahrgang 1967, lebt als freie Fotografin in Berlin. Ihr erster Kurzfilm, Der Staub der Stadt, lief 1998 auf der Berlinale. Für mare fotografierte sie u. a. die Strandsegler von Sankt Peter Ording (in No. 11). In mare No. 12 porträtierten die beiden das Fischlokal „Gandori“ in Tanger
Person Von Zora del Buono und Heike Ollertz
Vita Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist mare-Kulturredakteurin. Ihre letzte Reportage, die sie über eine Schwulen-Kreuzfahrt schrieb, erschien in No.9.

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