Nimm mich mit, Kapitän, in den Westen

Die Parteisekretäre des Fischkombinats Rostock ließen Tausende Exemplare davon aufkaufen und einlagern. Trotzdem wurde das Buch „Fänger und Gefangene“, 1983, ein Erfolg. Landolf Scherzer beschreibt darin die Missstände auf einem volks­eigenen Trawler

Fünfzig Tage unter Deck in der Fischverarbeitung, auf dem „Portugiesendeck“, wie es in der DDR-Fischerei hieß. Zwischen Diesel- und Schweißgeruch, zwischen Hackwanne und Filetiermaschine. Offene Wunden an den Händen von den Stacheln des Rotbarschs, ein paar Stunden Schlaf in der Nacht, oft zwölf Stunden im null Grad kalten Schlachtraum, mit rohem Fisch, umgeben von rohen Gemütern. Im Blick aus einem 15 Zentimeter großen Bullauge: nur Gischt, selten ein Ozean. Seekrankheit, zum Kotzen.

Es ist ein vereinendes Schicksal derer an Bord; sie sitzen und schuften alle in einem Boot, zwei Mann auf vier Quadratmetern, irgendwo vor Labrador und Neufundland. Es ist körperliche und mentale Schwerstarbeit.

Und dann – St. John’s, Neufundland: „Schweigend genießen wir an Deck den Anblick der schneebedeckten, gespreizten Felsenschenkel, die weit ins Meer ragen und in deren Geborgenheit wir nun hineingleiten. Trotz der zehn Grad Kälte beginne ich vor Aufregung zu schwitzen. Ein Fort am Eingang zur Bucht, dann riesige Öltanks, Blechbaracken, Blockhäuser, Fischerkähne und zwei Frachter, Hochhäuser, Straßenlärm, eine große, aus Felssteinen gebaute Kirche auf dem Berg über der Stadt … Ich kann mir keine Einzelheiten einprägen, zu gierig sind die Augen.“ Landolf Scherzer, der diese Zeilen schrieb, hatte auf diesem Schiff angeheuert. Offiziell als Arbeiter. Inoffiziell als Schriftsteller.

Es ist ein Vormittag im Februar 1978. Die Männer gehören zu einer der größten Fangflotten der Welt: der des VEB Fischkombinat Rostock. Sie kommen aus Thüringen, Sachsen, Mecklenburg; 40 Männer zwischen 18 und 63 Jahren. Ihre Rufnamen: Dombrowski, Widder, Opa, Odysseus. Frisch geduscht für zwei Tage Landgang, mit sauber und zu heiß gewaschenen Hosen und Hemden. Mit neuem Fassonschnitt auf dem Kopf, den der Fischmehler trotz des schaukelnden Dampfers einigen verpasst hat, eingenebelt in den Duft des „Irischen Frühlings“.

Manche zünden sich die erste Zigarette, eine F6 oder eine Club, in der Neuen Welt an, einige lächeln sich verheißungsvoll zu. Für die 16 „Jungfrauen“ an Bord, darunter auch Scherzer, ist es vielleicht der unvergesslichste Augenblick ihres Lebens: der erste unmittelbare Kontakt zum Westen. „Da ist auf einmal diese Welt, die du eigentlich nicht sehen darfst.“

„St. John’s ist nichts Besonderes. St. John’s ist kein Ort fürs Reisehandbuch. Touristisch nicht erwähnenswert, ohne Bedeutung. Doch für die Männer an Bord ist es Paris.“ Zwei Tage werden die Fischer und der Schriftsteller Landgang haben, zwei Tage werden sie den wilden Westen auskosten, ob in einer Bar oder im Bett einer Kanadierin – mit gerade zwei D-Mark im Gepäck. Für diese beiden Tage Landgang heuern manche auf der schwimmenden Fischfabrik an. Mitten im Winter im unberechenbaren Atlantik. „Ich stand immer an unserem kleinen Meer, an der Ostsee, und sah das Meer und den Horizont. Ich wusste: Dahinter ist eine andere Welt“, erinnert sich Scherzer.

Mehr als drei Monate, 100 Tage, 2386 Stunden, ist er an Bord eines Fangschiffs Baujahr 1962, das seit 16 Jahren die Weltmeere kreuzt. Scherzer ist damals 36 Jahre alt, zu Hause hat er zwei Kinder und eine Frau. Er ist völlig unerfahren auf dem Meer und neigt zum Schwindel. „Schon als Kind wurde mir, wenn sich das Karussell drehte, schon vom bloßen Hinsehen schlecht.“ Er weiß, dass ihn die Seekrankheit quälen wird. Aber auch, dass er es aushalten will.

Er ist neugierig. Er will die Abgründe der Seele ergründen und ein Stück Sozialismus, das ungewöhnlich für den DDR-Bürger und doch typisch ist für das System. Die Planwirtschaft verplant sogar die Unwägbarkeiten der Meere, die Willkür des Klimas und den Weg der Fischschwärme.

Fisch war in der DDR ein subventioniertes Grundnahrungsmittel und zugleich ein kostbares Exportgut. Man schickt seine Seeleute immer weiter weg, um das Soll zu erfüllen. Und rechnet mit dem sich anpassenden Menschen. Am Ende jeder Fahrt zählt die DDR ihre Schäfchen und ist froh, wenn keines fehlt.


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mare No. 110

No. 110Juni / Juli 2015

Von Danuta Schmidt, René Röhlich und Landolf Scherzer

Danuta Schmidt, Jahrgang 1971, lebt als Autorin in Berlin. Der Geruch von Bootslack in der Sonne erregte in ihr bereits als Kind die Sehnsucht nach Meer. Auch wenn damit nur eine Gartenlaube in den Thürniger Bergen gestrichen wurde.

Von Landolf Scherzer erschienen zuletzt die Chinareportagen Madame Zhou und der Fahrradfriseur sowie das Griechenlandporträt Stürzt die Götter vom Olymp, beide im Aufbau Verlag. René Röhlich war Schiffsbäcker auf DDR-Fischereischiffen, Günther Kröger war Kapitän. Beide haben mare Bilder aus ihren Privatarchiven zur Verfügung gestellt.

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Vita Danuta Schmidt, Jahrgang 1971, lebt als Autorin in Berlin. Der Geruch von Bootslack in der Sonne erregte in ihr bereits als Kind die Sehnsucht nach Meer. Auch wenn damit nur eine Gartenlaube in den Thürniger Bergen gestrichen wurde.

Von Landolf Scherzer erschienen zuletzt die Chinareportagen Madame Zhou und der Fahrradfriseur sowie das Griechenlandporträt Stürzt die Götter vom Olymp, beide im Aufbau Verlag. René Röhlich war Schiffsbäcker auf DDR-Fischereischiffen, Günther Kröger war Kapitän. Beide haben mare Bilder aus ihren Privatarchiven zur Verfügung gestellt.
Person Von Danuta Schmidt, René Röhlich und Landolf Scherzer
Vita Danuta Schmidt, Jahrgang 1971, lebt als Autorin in Berlin. Der Geruch von Bootslack in der Sonne erregte in ihr bereits als Kind die Sehnsucht nach Meer. Auch wenn damit nur eine Gartenlaube in den Thürniger Bergen gestrichen wurde.

Von Landolf Scherzer erschienen zuletzt die Chinareportagen Madame Zhou und der Fahrradfriseur sowie das Griechenlandporträt Stürzt die Götter vom Olymp, beide im Aufbau Verlag. René Röhlich war Schiffsbäcker auf DDR-Fischereischiffen, Günther Kröger war Kapitän. Beide haben mare Bilder aus ihren Privatarchiven zur Verfügung gestellt.
Person Von Danuta Schmidt, René Röhlich und Landolf Scherzer