Nichts müssen und doch probieren

Eine 69-Jährige träumt davon, im Meer zu schwimmen. Ob sie das Schwimmen dafür noch lernen können wird?

Genau kann man es natürlich nicht wissen. Aber wenn der Vater in Italien nicht einen Unterarm verloren hätte oder wenn, viel später, die Verwandten am Beckenrand nicht alle über sie gelacht hätten, dann könnte Sigrid Fiebinger jetzt wahrscheinlich in der Nordsee schwimmen.

So wohnt sie nur dort, in Ostfriesland, in der Krummhörn, in einem der Dörfer, in denen die Kirchen auf Erhebungen gebaut wurden, damit bei Hochwasser die Menschen sich dorthinein flüchten können. Der große Deich ist nicht fern von Sigrid Fiebingers kleinem Haus; steigt sie in die obere Etage, kann sie ihn gut erkennen, geht sie hin, was sie oft tut, ist sie in zehn Minuten da.

Sie setzt sich auf die Bank dort oder bleibt stehen und guckt und wird ruhig. Es braucht dazu nur das vor und zurück wellende Wasser und den rauen oder blauen Himmel, wichtig, und hier selbstverständlich auch die Verbindung zur Erde, das Gefühl von Sicherheit, sie kann ja eben nicht schwimmen, sie wird immer gleich hektisch in dem Element, das sie so mag und dessentwegen sie mit ihrem Mann hergezogen ist, vor acht Jahren war das.

Manchmal reicht ein für Außenstehende gar nicht so dramatisch erscheinendes Erlebnis, und eine Sicherheit ist fürs ganze Leben dahin: Sigrid Fiebinger war zwölf, möglicherweise auch erst zehn, sie weiß es nicht mehr so genau, als sie im Schwimmbecken eines Kinderheims frohgemut ins Loch eines dicken schwarzen Reifens sprang. Die Tante arbeitete in dem Heim. Es waren Ferien. Die Familie hatte das Gelände für sich. Und Sigrid, spindeldürr, kriegte nichts von dem glitschigen Reifen zu fassen und schoss in die Tiefe, die gar so tief natürlich nicht gewesen sein kann. Vielleicht traf das Mädchen schnell auf den Kachelboden und konnte sich wieder hochstoßen, sicher sogar, dennoch hat es sich fürchterlich erschrocken. Und der zweite, noch größere Schreck gleich nach dem Auftauchen. Die Geschwister, die Eltern, die Tante, der Onkel lachten, das war ihr mit ihrem noch wild buckerndem Herzen völlig unverständlich. Wie die alle vor und über ihr stehen und in einem fort lachen konnten.

„Ich fühlte mich gedemütigt“, sagt Sigrid Fiebinger, und sie klingt ganz anders, nämlich viel ernster, als der alte Fischer Fritz Tonke klingt, der mit seinem Wagen einmal in der Woche in ihr Örtchen kommt und ihr Ware verkauft und der vor vier Jahrzehnten ein viel einschneidenderes Erlebnis hatte als sie, es geht so: Fritzens Kutter liegt auf ’ner Sandbank. Sommer ist, die Besatzung springt ins Wasser und schwimmt, da kommt die Flut, wie sie nun mal kommt, der Kutter wird langsam gehoben, und die Männer klettern ohne Eile, aber auch ohne Trödelei wieder hoch. Nur Fritz ist nicht aufmerksam und paddelt noch umher. Und achtsam sind nun leider auch nicht mehr die anderen, sie tuckern ohne ihn los, für eine ganze Weile haben sie ihn vergessen, und er muss ankämpfen gegen das mächtig strömende Wasser und muss schwimmen, schwimmen, schwimmen. „Ich hab schon Sonne, Mond und Sterne geseh’n“, sagt er durchaus stolz in seinem Wagen, „das war richtig angenehm, absaufen ist herrlich.“

„Aber Sie stehen ja noch hier.“

„Weil die auf dem Schiff irgendwann gemerkt haben, dass ich fehle. Im letzten Moment bin ich gerettet worden.“

Seitdem kann der Fischer Fritz nicht mehr schwimmen, keinen Zug. Tiefes Wasser ist ihm buchstäblich ein Graus, gar nicht gut für ihn, er hatte damals doch erheblich umdisponieren müssen. Seit 40 Jahren legt er nur noch Reusen, immer vier Stunden nach der Flut, bei Niedrigwasser, und bei Niedrigwasser holt er sie wieder ein. Leichthin erzählt er davon, eine Frohnatur? Zu-mindest ein Mann, der sich zu arrangieren versteht. Nie käme er auf den Gedanken, das Schwimmen wieder in sein Leben zu hieven, es wäre doch eine sinnlose und sogar kontraproduktive Anstrengung.

Bei Sigrid Fiebinger ist es anders. Sie ist jetzt 69 und geht zum Kurs in die Halle beim Meer, um das Wasser zu fühlen und das Schwimmen noch zu erlernen. Um es zu erzwingen? Den Eindruck hätte man, wenn man sie beobachtete, ohne etwas von ihr zu wissen, denn man sieht ja nur, wie kurz die Distanz ist, die sie sich zutraut, und wie nah sie am sicheren Rand bleibt: Sie bewegt sich immer diagonal von der Einstiegstreppe zur Stirnseite des Beckens, sie legt jeweils nicht mehr als fünf, sechs Meter zurück und macht dabei hektische Armbewegungen, mit denen sie jede Menge Wasser aufwirft, während ihr die Beine fast wie abgestorben hängen – ganz klar, sie, oder etwas in ihr, sucht Bodenberührung, es fehlt auch nicht viel dazu, sie misst 1,78 Meter, und die Wassertiefe beträgt nur 1,81 Meter.


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mare No. 126

No. 126Februar / März 2018

Von Birk Meinhardt und Mathias Bothor

Birk Meinhardt, geboren 1959, Schriftsteller und Reporter, wohnt am Rand von Berlin. Er wuchs mit Blick auf das Freibad Berlin-Pankow auf. Einmal stürzte ein Jugendlicher, der zu viel Anlauf genommen hatte, vom Zehn-Meter-Turm auf den Beckenrand und war sofort tot. Seitdem scheut sich Meinhardt, von so weit oben zu springen, und schwimmt brav vor sich hin.

Mathias Bothor, Jahrgang 1962, Fotograf in Berlin, kann zwar schwimmen, tut dies aber vorzugsweise in Flüssen und Seen. Während seiner monatelangen Arbeit am Mittelmeer-Bildband, der 2016 im mareverlag erschien, ging er nur ein einziges Mal ins Meer. Der Dokumentarfilm Trockenschwimmen von Regisseurin Susanne Kim lief im vergangenen Jahr im Kino. Seit November 2017 ist er auf DVD erhältlich.

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Vita Birk Meinhardt, geboren 1959, Schriftsteller und Reporter, wohnt am Rand von Berlin. Er wuchs mit Blick auf das Freibad Berlin-Pankow auf. Einmal stürzte ein Jugendlicher, der zu viel Anlauf genommen hatte, vom Zehn-Meter-Turm auf den Beckenrand und war sofort tot. Seitdem scheut sich Meinhardt, von so weit oben zu springen, und schwimmt brav vor sich hin.

Mathias Bothor, Jahrgang 1962, Fotograf in Berlin, kann zwar schwimmen, tut dies aber vorzugsweise in Flüssen und Seen. Während seiner monatelangen Arbeit am Mittelmeer-Bildband, der 2016 im mareverlag erschien, ging er nur ein einziges Mal ins Meer. Der Dokumentarfilm Trockenschwimmen von Regisseurin Susanne Kim lief im vergangenen Jahr im Kino. Seit November 2017 ist er auf DVD erhältlich.
Person Von Birk Meinhardt und Mathias Bothor
Vita Birk Meinhardt, geboren 1959, Schriftsteller und Reporter, wohnt am Rand von Berlin. Er wuchs mit Blick auf das Freibad Berlin-Pankow auf. Einmal stürzte ein Jugendlicher, der zu viel Anlauf genommen hatte, vom Zehn-Meter-Turm auf den Beckenrand und war sofort tot. Seitdem scheut sich Meinhardt, von so weit oben zu springen, und schwimmt brav vor sich hin.

Mathias Bothor, Jahrgang 1962, Fotograf in Berlin, kann zwar schwimmen, tut dies aber vorzugsweise in Flüssen und Seen. Während seiner monatelangen Arbeit am Mittelmeer-Bildband, der 2016 im mareverlag erschien, ging er nur ein einziges Mal ins Meer. Der Dokumentarfilm Trockenschwimmen von Regisseurin Susanne Kim lief im vergangenen Jahr im Kino. Seit November 2017 ist er auf DVD erhältlich.
Person Von Birk Meinhardt und Mathias Bothor