Nicht Welle, sondern Chance

Die Not der flüchtenden Menschen sehen lernen: Es ist Zeit, dass wir die Empathie über unsere Ängste siegen lassen

Seit je verlassen Menschen ihre Länder, wagen sich mit Booten über das Meer und erhoffen sich die Aufnahme in einer besseren Welt. Sie flüchten vor Kriegen, politischen oder religiösen Repressalien wie auch vor Hungersnöten und Verelendung aufgrund klimatischer Katastrophen.

Seit über einem halben Jahrhundert verschlechtern sich die Lebensbedingungen in vielen Ländern Afrikas, zunehmend auch im Nahen und Mittleren Osten. Der Klimawandel ist ein nicht umkehrbarer und auch ein absehbar nicht endender Prozess, der maßgeblich zu dieser Migration beiträgt. Die daraus folgenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Notsituationen sind neben anhaltenden Kriegen – oft um Rohstoffe wie Öl oder Erze für Industrienationen – die bleibenden und sich verschärfenden wichtigsten Gründe für die aktuelle Flucht der Menschen über das Mittelmeer zu uns und bleibt dies mindestens auch für einige weitere Jahrzehnte.

Der Journalist Stephen Smith, der Afrikanistik an der Duke University in North Carolina, USA, lehrt, veröffentlichte 2018 ein aufsehenerregendes Buch, aus dem Emmanuel Macron zitiert, wenn er über die Zukunft Europas spricht. Es heißt „Nach Europa! Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent“. Darin äußert Smith folgende provokante These: „In etwa dreißig Jahren wird ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerung Europas afrikanischer Herkunft sein.“ Demnach wären dies 150 Millionen bis 200 Millionen immigrierte Menschen, heute sind es neun Millionen.

Selbst wenn das Szenario nur zum Teil eintritt, müssen wir zu dieser grundsätzlichen Entwicklung eine Haltung einnehmen. Wie der Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der Wissenschaftspublikation „World Ocean Review 5“ über die Wahrscheinlichkeit einer steigenden Immigration von Klimaflüchtlingen in Europa anmerkte, würden unsere moralischen und ethischen Überzeugungen dabei auf den Prüfstand gestellt, da damit eine tiefgreifende Veränderung unserer bisherigen europäischen Gesellschaft einhergehe. Schon die jetzige, relativ geringe Anzahl von Flüchtlingen zeigt, dass wir ohne eine Haltung dazu und dem Bewusstsein für die Veränderungen in Europa uns der Gefahr aussetzen, dass wir den populistischen Kräften deren Sprache und ihnen somit das Handeln überlassen.

Sprachgebrauch, letztlich der Sprachmissbrauch ist ein frühes Indiz, wenn gesellschaftliche Veränderungen zu anderen Wahrnehmungen und somit auch anderen Handlungen führen. Der Romanist und Literaturwissenschaftler Victor Klemperer schuf eine profunde Bestandsaufnahme der Sprache im Nationalsozialismus. Er vertritt darin die These, dass weniger einzelne Wörter oder Reden den größten Eindruck in der Bevölkerung hinterließen, sondern die stereotypen Wiederholungen. Interessant dabei ist auch, wie Klemperer zeigte, dass der Sprachgebrauch der Nationalsozialisten vor allem darauf zielte, solche zu erreichen, die noch nicht Parteimitglieder waren. Eine Suggestion mit unfassbarer Wirkung. Die Penetranz der Redundanz als erfolgreiches sprachliches Machtmittel zeigt sich auch gegenwärtig, wenn immer öfter von „Asylforderern“ oder „Asyltourismus“ gesprochen wird. Oder wenn der US-Präsident mittels Twitter, an seiner Partei und seinen Beraterstäben vorbei, direkt kommuniziert und so Millionen beeinflusst. Die Penetranz der sozialen Medien ist dabei ein unheilvolles und in seinem Beeinflussungspotenzial noch unterschätztes Kommunikationsmittel. Der Sprachmissbrauch ist wieder im Aufwind, seine darauf fußende Suggestion erreicht immer mehr Menschen.

Allein der Begriff „Flüchtling“ macht die Veränderung einer Wahrnehmung deutlich. Etwa 50 Millionen Amerikaner können sich auf deutsche Wurzeln beziehen, also auf Auswanderer, die vor allem im 19. Jahrhundert das Deutsche Reich oder den Deutschen Bund verließen. Auswanderer? Es waren Wirtschaftsflüchtlinge, die während der Gründerkrise ab etwa 1880 vor der Arbeitslosigkeit flohen, aber auch politische Flüchtlinge, die nach dem Scheitern der Revolution von 1848 in Massen in die USA und nach Australien emigrierten. „Forty-Eighters“ wurden die Revolutionsflüchtlinge dort genannt. In diesem Zusammenhang ist der Begriff „Flüchtling“ noch absolut positiv konnotiert, der Begriff „Auswanderer“ erst recht.

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mare No. 133

No. 133April / Mai 2019

Von Nikolaus Gelpke

Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe mareTV im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel.

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Vita Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe mareTV im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel.
Person Von Nikolaus Gelpke
Vita Nikolaus Gelpke, 1962 in Zürich geboren, ist Verleger des mareverlags und Chefredakteur der Zeitschrift mare. Auf Anregung von Elisabeth Mann Borgese studierte er Meeresbiologie an der Universität Kiel. Nach dem Diplom führte seine Leidenschaft für die See zur Idee von mare: Die erste Ausgabe erschien 1997; 2001 ging die Dokumentationsreihe mareTV im NDR erstmalig auf Sendung. Seit 2002 gehören auch Bücher zum Programm des mareverlags. Nikolaus Gelpke ist Initiator des World Ocean Review, der seit 2010 jährlich erscheint. Er ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation und des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und im Evaluationsteam des Exzellenzclusters „Ozean der Zukunft“ in Kiel.
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