Neptunisten vs. Vulkanisten

Entstand die Welt aus dem Meer? Oder als große Eruption? Goethes Position in einem Streit unter Gelehrten

Ist man auf der Suche nach Anwälten der bedrohten Meere und scheut bei dieser Suche auch nicht vor einem Schritt in die Vergangenheit zurück, dann stößt man irgendwann unweigerlich auf Johann Wolfgang von Goethe. Der zweite Teil von „Faust“ enthält einen der schönsten Gesänge auf die Ozeane dieser Welt in deutscher Sprache. Dieser Gesang ist zugleich eine Warnung vor der Entfremdung von den Grundlagen allen Lebens. Er lehrt, dass der immer erneute Gang ans Meer, die Kontaktaufnahme mit den Ozeanen vor dieser Entfremdung zu bewahren oder sie doch zu vermindern vermag.

Die Erfahrung der Rhythmen des Meeres erlaubt es dem Menschen, sich in die großen Rhythmen der Welt einzuschwingen: An Ebbe und Flut, an der eintönigen und doch immer neuen Brandung teilzuhaben bedeutet, den großen Atem der Welt zu spüren. Auch bei Goethe sind es die „in der Grüne gestillter Meere streichenden Delfine“, die hier die Menschen lotsen. Die Schlussszene des zweiten Aktes, eine Art gewaltiger Wortoper, spielt in den Felsbuchten des Ägäischen Meeres, mitten in der Nacht, der Mond steht im Zenit. Die Szene gipfelt darin, dass der kleine hässliche Homunkulus, der nur in einem phosphoreszierenden Glaskolben überleben kann – eine Allegorie des modernen Menschen –, von einem Delfin aufs offene Meer hinausgetragen wird, um zuletzt am Muschelwagen der Galatee zu zerschellen. Der Inhalt des Kolbens ergießt sich ins Meer, und das unter Teufelseinfluss erzeugte Retortenmännlein tritt die große Reise an. Denn:

Alles ist aus dem Wasser entsprungen!
Alles wird durch das Wasser erhalten!
Ozean, gönn uns dein ewiges Walten.
Wenn du nicht Wolken sendetest,
Nicht reiche Bäche spendetest,
Hin und her nicht Flüsse wendetest,
Die Ströme nicht vollendetest,
Was wären Gebirge, was Ebnen und Welt?

Der Augenblick des Zerschellens ist von Goethe ganz offen als ein Orgasmus beschrieben worden. Die Entstehung des Lebens im Meer steht im Zeichen des ewigen „Eros, der alles begonnen“:

Was flammt um die Muschel, um Galatees Füße?
Bald lodert es mächtig, bald lieblich, bald süße,
Als wär’ es von Pulsen der Liebe gerührt.
Homunculus ist es, von Proteus verführt …
Es sind die Symptome des herrischen Sehnens,
Mir ahnet das Ächzen beängsteten Dröhnens;
Er wird sich zerschellen am glänzenden Thron;
Jetzt flammt es, nun blitzt es, ergießet sich schon.

Goethes Hymnus auf das Leben spendende Wasser und die Erotik des Meeres hat einen kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund. Goethe begriff sich selbst ebenso sehr als Naturforscher wie als Dichter und nahm an den Debatten seiner Zeit lebhaften Anteil.

Um 1800 entbrannte unter den Gelehrten ein heftiger Streit über die Entstehung der Erde. Die eine Fraktion war der Meinung, die Formationen der Gebirge sowie die Gesteine selber verdankten ihre Entstehung dem eruptiven und unberechenbaren Walten vulkanischer Mächte. Im Anfang sei die Erde von Vulkanen bedeckt gewesen, die riesige Mengen von Lava über die Erdoberfläche geschleudert und so die Welt geformt und die Steine gebildet hätten. Die Verfechter dieser Ansicht sind als „Vulkanisten“ in die Geschichte eingegangen.

Ihre Gegner, die so genannten „Neptunisten“, gingen davon aus, dass den gewaltigen Ozeanen der Urzeit der entscheidende Einfluss auf die Gestaltung der Erde zuzusprechen sei. Die Gebirge, die Landschaften sollten Resultat von langsamen und ruhigen Prozessen der Ablagerung sein; das Festland sei – und die Funde versteinerter Muscheln in den Gebirgen sprachen für diese These – dasjenige, was die großen Ozeane zurückgelassen hätten, als sie sich in ihre heutigen Becken zurückzogen. Die Neptunisten gingen – wie man heute weiß, ist diese Ansicht falsch – sogar davon aus, dass selbst Gesteinsarten wie Granit oder Basalt Ergebnis von Sedimentierung seien. Goethe war und blieb bis zu seinem Lebensende ein entschiedener Neptunist.


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mare No. 29

No. 29Dezember 2001 / Januar 2002

Von Eckart Goebel

Eckart Goebel, Jahrgang 1966, promovierte in Komparatistik. Er lebt in Berlin. Für mare No. 25 schrieb er über den Mittelpunkt des Mittelmeers.

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Vita Eckart Goebel, Jahrgang 1966, promovierte in Komparatistik. Er lebt in Berlin. Für mare No. 25 schrieb er über den Mittelpunkt des Mittelmeers.
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Vita Eckart Goebel, Jahrgang 1966, promovierte in Komparatistik. Er lebt in Berlin. Für mare No. 25 schrieb er über den Mittelpunkt des Mittelmeers.
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