Nationale Marinade

Ceviche, Perus Nationalgericht, schmeckt auch den Gästen des Restaurants „Chicama“ in New York

Als an einem schwülen Samstag im August im Kraftwerk von New York ein Feuer ausbricht und südlich der 23. Straße den Strom abwürgt, bleiben in vielen Restaurants die Kühlschränke stehen. Die Besitzer schicken ihre Küchenjungen in die Delis von Manhattan, um in Tüten verpacktes Eis aufzukaufen. Trotzdem treiben am späten Nachmittag Fische und Steaks im Schmelzwasser.

Die Restaurants stellen vorläufig den Betrieb ein. Die Stadt glüht. Hispanische Küchenjungen machen es sich im Schatten der Häuser vor den Restaurants bequem. In der Bleecker Street im West Village oder auf St. Marks im East Village schauen sie scheu den Mädchen hinterher, fächeln sich mit Speisekarten Luft zu, machen sich leise und auf Spanisch über ihre nervösen Chefs lustig oder dösen an den warmen Wänden. Küchenzwerge mit Indianergesichtern in saucenbespritzten Jäckchen und mit kargen Gehältern, die sie für ihre Familien zu Hause sparen. Menschen, zu klein für diese Stadt, in der ihr Leben außerhalb der Restaurantküchen normalerweise unbemerkt bleibt.

In dem Restaurant „Chicama“, auf der  19. Straße, geht der Betrieb an dem schwülen Samstag weiter. Jimmy aus Peru schickt seine Chaparros („die Kurzen“) in die Delis,  um Zitronen und Limonen zu beschaffen. „So viel ihr kriegen könnt. Wir arbeiten einfach vor, rasch!“, mahnt der Oberkellner. In der Küche trifft Jimmy die Vorbereitungen. Hummerschwänze, Shrimps aus dem Golf von Mexiko und Octopus aus Südkorea werden zerschnippelt. „Ceviche-Vorrat für eine Woche“, sagt Jimmy und sieht zu, wie die Kellner und Küchenhilfen den Limonensaft über den Meeresfrüchten auspressen.

Ceviche stammt aus Peru, wie Jimmy, und ist ungekochter Fisch, eingelegt mit Zwiebeln, Koriander, Knoblauch und einer Prise Chili in Limonensaft. Von Peru wanderte Ceviche im Norden bis nach Mexiko und im Süden bis nach Feuerland. Das „Chicama“ ist bisher New Yorks einziges Ceviche-Restaurant. „See the beach“, sollen englische Seefahrer in Peru sich im frühen 20. Jahrhundert geraten haben, „dann kannst du sorglos den ungekochten Fisch essen.“ „See the beach“, sagten die Engländer, „Ceviche“ verstanden die Spanisch sprechenden Peruaner.

Obwohl der Name „Chicama“ einem peruanischen Fischerdorf entliehen ist, erinnert in dem Restaurant nichts an Peru. In demselben Gebäude sitzt ein New Yorker Teppich- und Möbelhaus. Das ABC Warehouse sorgt für Teile der Ausstattung. Deren Tapisserien hängen von den Wänden des „Chicama“ wie zum Trocknen aufgehängte Fangnetze. Auf Anfrage läuft Jimmy für einen Gast zu einem der Teppiche und sucht in den Strähnen nach dem Preisschildchen.

Jimmy arbeitet seit fünf Jahren im „Chicama“. Er begann als Busboy: Servietten über Schößen entfalten, Brotkrümel mit Fingerbesen von den Tischen fegen und Eiswasser nachgießen für fünf Dollar die Stunde. Es dauerte einige Jahre, bis er den Mut hatte, dem Koch im „Chicama“, einem Kubaner, Ratschläge zu geben. Dass Ceviche besser schmeckt, wenn man den  Saft einer Blutorange in den Limonensaft mischt. Oder dass die Petersilie besser Koriander wäre. Ceviche war einmal das Armenessen der peruanischen Fischer.

Ein Ecuadorianer empfahl noch, Ceviche mit Avocados zu servieren, das Rezept seiner Großmutter. Als „Ecuadorianischer Ceviche“ kam es auf die Karte. Filipo aus Chile, dessen Schnauzer so kräftig ist, dass man sich daran hochziehen könnte, schlug Lachs vor – „Chilenischer Ceviche“. Den schönsten Namen trägt Jimmys klassischer Ceviche: „Dreaming of Peru“.

Abends sind die Tische in den drei Räumen des „Chicama“ gut besetzt. Eine Warteschlange aus eleganten New Yorkern windet sich zur Bar. Ein japanisches Paar hat „Hamachi Ceviche“ bestellt, japanischer  Yellowtail. Der Mann daneben, im Anzug, bestellt Hummer-Ceviche. Während er wartet, nippt er am bunten „Chicamapolitan“, aus dem steil ein Stück Zuckerrohr ragt. Er sieht sich zufrieden im Lokal um. Die Busboys in ihren weißen Jäckchen sind tüchtig und bringen pausenlos frisches Eiswasser. Wer jetzt ein wenig zurücktritt, zu den hängenden Teppichen vielleicht, dem wird etwas auffallen, wenn die Kellner in eleganten Bewegungen den Ceviche servieren: wie die Gäste sich über die Teller beugen und plötzlich klein werden wie Kinder. Denn die Tische im „Chicama“ sind ein bisschen zu hoch. Und die Stühle zu niedrig. Niemand weiß, warum.


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mare No. 37

No. 37April / Mai 2003

Von Michael Saur und Bastienne Schmidt

Autor Michael Sau, Jahrgang 1967, lebt seit 1994 in New York.

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Vita Autor Michael Sau, Jahrgang 1967, lebt seit 1994 in New York.
Person Von Michael Saur und Bastienne Schmidt
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