Napoli, città mia

Im Neapel des Nachkriegs dokumentiert ein Schweizer Fotograf das erblühende Leben unter den Augen der GIs. Eine deutsch-italienische Schriftstellerin erlebt hier ihre Jugend

Die Nachwehen des Zweiten Weltkriegs waren in Neapel auf Jahre hinaus schmerzhaft, zerrüttend und entwürdigend. Der schon im September 1943 mit dem Oberkommando der Alliierten abgeschlossene Waffenstillstand ersparte Süditalien zwei Jahre weitere Bombenangriffe. Der Friedensvertrag im Mai 1945 setzte dann einen Schlussstrich und beendete das Gemetzel auch im Rest des Landes. Doch hatte mit dem Einmarsch der Amerikaner für die Neapolitaner, die hungrig und verängstigt aus den Ruinen krochen, um ihre „Befreier“ mit Tränen und Küssen zu empfangen, ein ganz neuer Überlebenskampf begonnen.

Die zerstörte Stadt war eine offene Wunde, allen Infektionen ausgesetzt, und von sämtlichen wurde sie befallen. Seit Kriegsbeginn kannte das niedere Volk, „il popolino“ (das bei Weitem die Mehrheit der Einwohner ausmachte), Hungersnot und Obdachlosigkeit, die Schrecken der Luftangriffe, die Angst um das eigene Leben und das der Angehörigen; doch dann, als der Krieg für sie eigentlich schon vorbei war, brachte ihnen die Begegnung mit den sehnlich erwarteten „liberatori“ die ungeahnte Zersetzung aller bisherigen Werte. Da erst erfuhren sie das ganze Ausmaß der Niederlage. Von Schwarzmarkt, Korruption, Kriminalität, Profitgier, Prostitution überwältigt, ging „l’onore“ (die in der Vorstellung des Südländers so unerlässliche Ehre) in der heillosen Verwirrung verloren.

Auf den Fotos Walter Studers vom Neapel der fünfziger Jahre ist die Atmosphäre der Nachkriegszeit geradezu greifbar präsent, man spürt aus ihnen das prekäre Leben der Einwohner, wie sie sich mit jedem Behelfsmittel durchzuschlagen versuchten; man sieht eine verwahrloste, zusammengeflickte Stadt, ein Provisorium, und auch die einstmals ansehnlichen, vom Bombenregen verschonten Gebäude verraten in diesen Bildern ihre schäbige Traurigkeit. Aber es sind vor allem die flüchtigen Impressionen von amerikanischen Matrosen auf Landgang, die ins Auge springen: Da sind sie wieder, die jungen Kerle mit den „segnorine“ (das italienische „signorine“ in amerikanischer Aussprache und bei den Neapolitanern schlechthin das Wort für „Hure“) in den elenden Bars des Hafens, beim Tanzen und intensiv sich der doch streng untersagten „fraternization“ widmend. Es gab zahlreiche Farbige unter den Matrosen, und ihre Kinder, die in den erbärmlichen Behausungen der Gassen an die Welt kamen, ließen sich nicht verheimlichen; sie denunzierten gleichsam ihre Mütter als Huren und waren daher für jeden „figli di puttane“. Arme Frauen, arme Kinder …

Sehr populär war damals ein böses Lied, „Tammurriata nera“, das eine „ganz, ganz schwarze Geschichte“ erzählte und die unschuldigen Opfer bewitzelte. In den alten Fotos Studers ist auch der groteske, krude Song bewahrt und überhaupt die ganze Geräuschkulisse jener Zeit, mit der aus den Lokalen dröhnenden amerikanischen Musik, zu der getanzt wurde – Honky Tonk, Chattanooga Choo Choo, Jitterbug. Ebenso vernimmt man jene gedämpften nächtlichen Geräusche, die der Amerikaner John Horne Burns in seinem viel zu wenig beachteten Kriegsbuch „The Gallery“ festgehalten hat: „Da waren die trampelnden Schritte der amerikanischen Military Police auf der Suche nach Frauen, das Huschen neapolitanischer Sandalen, das unregelmäßige, von zu viel Vermouth behinderte Stampfen der englischen Nagelstiefel. Da waren immer wieder die schmatzenden Küsse und das Rauschen des Urins … Im Mondschein verfolgten sich die Schatten, einzeln und zu Paaren, von Winkel zu Winkel.“

Mir gehen die Fotos von Walter Studer auch heute, nach so vielen Jahren, noch unter die Haut, denn ich habe zu der Zeit in Neapel gelebt. Ich war Anfang zwanzig, ging auf die Universität und hatte kein Geld. Letzteres war in Neapel für fast alle die Regel und daher nicht so unangenehm wie anderswo. Ich übersprang gelegentlich eine Mahlzeit, was ich Leichtathletik nannte, und durfte für eine Miete von wenigen Lire ein Zimmer benützen, wenn ich nicht abends nach Capri zu meiner Familie zurückfahren konnte. Das Zimmer befand sich in dem verrufenen Hafenviertel, nämlich in den sogenannten Quartieri Spagnoli aus dem 16. Jahrhundert, die während der unseligen spanischen Herrschaft von dem Vizekönig Don Pedro de Toledo errichtet wurden als Garnison für seine Soldateska. Seit den Tagen Don Pedros war dieses Hafenviertel unverändert geblieben mit seinen engen, lichtlosen Gassen, baufälligen Häusern, bleichen Bewohnern, und man hätte glauben können, dass die bröckligen Fassaden nur von den zwischen ihnen gespannten, mit bunten Lumpen behängten Wäscheleinen zusammengehalten wurden.

Alle meine Mitbewohner in der Gasse dort verdienten sich ihren Unterhalt mit jeder erdenklichen Überlebensstrategie. Viel Militär war in den Vororten von Neapel stationiert, und vor allem war der Hafen Stützpunkt der amerikanischen Kriegsmarine, die dauernd Nachschub benötigte.


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mare No. 67

No. 67April / Mai 2008

Von Claretta Cerio und Walter Studer

Die Deutsch-Italienerin Claretta Cerio verlebte die ersten Jahre ihrer Kindheit auf Sylt. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zog ihre früh verwitwete Mutter mit vier Sprösslingen nach Capri. Cerio studierte Philologie. Sie lebt heute als freie Schriftstellerin mit fünf Hunden in der Toskana.

Der Berner Fotograf Walter Studer(1918–1986) begann seinen Berufsweg als Sportreporter in Schweizer Kurorten. Später arbeitete der Mitbegründer der Agentur Groupe Carré als freischaffender Reportagefotograf. Studer reiste viel, immer mit seiner Rolleiflex. In mare No. 52 waren seine Bilder von der (inoffiziellen) Jungfernfahrt des italienischen Kreuzfahrtschiffs „Andrea Doria“ zu sehen.

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Vita Die Deutsch-Italienerin Claretta Cerio verlebte die ersten Jahre ihrer Kindheit auf Sylt. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zog ihre früh verwitwete Mutter mit vier Sprösslingen nach Capri. Cerio studierte Philologie. Sie lebt heute als freie Schriftstellerin mit fünf Hunden in der Toskana.

Der Berner Fotograf Walter Studer(1918–1986) begann seinen Berufsweg als Sportreporter in Schweizer Kurorten. Später arbeitete der Mitbegründer der Agentur Groupe Carré als freischaffender Reportagefotograf. Studer reiste viel, immer mit seiner Rolleiflex. In mare No. 52 waren seine Bilder von der (inoffiziellen) Jungfernfahrt des italienischen Kreuzfahrtschiffs „Andrea Doria“ zu sehen.
Person Von Claretta Cerio und Walter Studer
Vita Die Deutsch-Italienerin Claretta Cerio verlebte die ersten Jahre ihrer Kindheit auf Sylt. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zog ihre früh verwitwete Mutter mit vier Sprösslingen nach Capri. Cerio studierte Philologie. Sie lebt heute als freie Schriftstellerin mit fünf Hunden in der Toskana.

Der Berner Fotograf Walter Studer(1918–1986) begann seinen Berufsweg als Sportreporter in Schweizer Kurorten. Später arbeitete der Mitbegründer der Agentur Groupe Carré als freischaffender Reportagefotograf. Studer reiste viel, immer mit seiner Rolleiflex. In mare No. 52 waren seine Bilder von der (inoffiziellen) Jungfernfahrt des italienischen Kreuzfahrtschiffs „Andrea Doria“ zu sehen.
Person Von Claretta Cerio und Walter Studer