Nachruf auf einen Weltenretter

Vom kleinen Krill wird die Menschheit nicht satt

Einst sollte er die Menschheit vor dem Hungertod bewahren. Heute, man ist bescheiden geworden, heilt er Kranke, die an Geschwüren leiden. Wie bei so vielen beginnt der Weg des antarktischen Krills vom vermeintlichen Weltenretter zum Realo in den siebziger Jahren.

Vorher hatten sich hauptsächlich Wale für den kleinen Krebs interessiert, denn sie ernährten sich von ihm. Der Name Krill kommt aus dem Altnorwegischen und bedeutet „Was der Wal frisst“. Doch nachdem sie die Meeressäuger nahezu ausgerottet hatten, suchten sowjetische und japanische Fischer neue Beute. Was der Wal nicht mehr frisst, so ihr Kalkül, könnte nun der Mensch nutzen. Zwar wird das Tierchen maximal sechs Zentimeter lang und lediglich ein bis zwei Gramm schwer, doch es bevölkert das Südpolarmeer in riesigen Schwärmen. Wie riesig genau, das wusste damals keiner. Unbekümmert wurde geschätzt und fabuliert: 150 Millionen Tonnen Krill müssten jährlich „über“ sein, vermuteten Wissenschaftler, denn so viel hätten die nun fast ausgerotteten Wale vertilgt. Auf bis zu eine Milliarde Tonnen schätzte gar eine japanische Studie den Bestand.

Auch die Klasse des Krustentieres machte begehrlich: Sein Fleisch ist eiweißreich, fettarm und selenhaltig. Bald priesen auch deutsche Wissenschaftler und Politiker den Krill als schier unerschöpfliche Eiweißreserve der Menschheit. Großzügig aus der Bundeskasse gefördert, brachen Forschungsschiffe zu Expeditionen ins Südpolarmeer auf, das sagenhafte Geschöpf zu untersuchen und es anschließend nach Deutschland zu bringen.

Mitte der siebziger Jahre avancierte die Minigarnele zum Medienstar. Auf dem Bonner Presseball wurde Krillpastete serviert. Sterneköche probierten sich an Krillpilaw. Und Wolfram Siebeck, Vorkoster der Nation, mäkelte maßvoll über die Essneuheit. Dann kam die Ernüchterung: Norwegische Wissenschaftler entdeckten einen bedenklichen Gehalt an Fluorid im neuen Hoffnungsträger. Wird der Krill nicht schnell genug verarbeitet, gelangt es aus dem Panzer in das Fleisch, hohe Konzentrationen des giftigen Salzes führen beim Menschen zur Knochenverhärtung: Das Skelett büßt seine Elastizität ein, es wird spröde.

Auch die Mär vom unerschöpflichen Vorrat kam ins Wanken: 1980 und 1981 führten Forschungsschiffe aus elf Ländern eine Art Volkszählung beim Krill durch. Für den Atlantik ergab sich eine Krillmenge von nur 35 Millionen Tonnen. Nicht allein der Mensch hatte offenbar Gefallen an der Nahrung der Wale gefunden, sondern auch Pinguine, Robben und Tintenfische. Mit dem Krill, so erkannte man jetzt, müsse man schonend umgehen, weil er eine Schlüsselstellung im Ökosystem des Südpolarmeeres innehat.

Zu seinem Schutz wurde die jährliche Höchstfangmenge zuletzt im Jahre 2000 auf vier Millionen Tonnen weltweit festgesetzt. Doch obwohl das Fluorproblem längst gelöst ist – die Krillpanzer werden bereits an Bord entfernt, das Fluorid kann das Fleisch nicht mehr verderben – blieb der Run auf den kleinen Krebs aus. Selbst 1982, in der Hochzeit der Krillfischerei, wurden nur rund 600000 Tonnen gefischt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fischt einzig Japan mit 60000 Tonnen in nennenswertem Umfang Krill, vor allem als Futter für Fischfarmen und Köder für Hobbyangler. Die Weltfangmenge beträgt derzeit rund 100000 Tonnen.

Hier zu Lande existiert Krill nur in der Nische. In minimalen Mengen wird sein Fleisch vor allem aus Polen importiert. Mit Glück kann man in der Betriebskantine dem weit gereisten Krebs begegnen, wenn etwa Krillschnitte in Kartoffelpanade serviert wird. Bedeutender ist das immer wieder aufflackernde Interesse der Chemie- und Pharmaindustrie an dem Meeresgeschöpf. Aus dem Chitin seines Panzers lässt sich Chitosan gewinnen (siehe Seite 60). Wissenschaftler sehen in ihm einen wertvollen Ausgangsstoff etwa für kompostierbare Partyteller oder luftdurchlässige Wundverbände.

Auf einen anderen Bestandteil des Krills setzen Ärzte Hoffnung. Um bei Temperaturen nahe null Grad zu überleben, verfügt der Krebs über ein sehr effizientes Verdauungsenzym. Forschern ist es kürzlich gelungen, daraus ein wirksames Präparat zur Behandlung chronischer Geschwüre, des so genannten offenen Beins, zu entwickeln. Der Wirkstoff löst abgestorbenes Gewebe, das sonst die Heilung hemmt, von der Wunde. So können sich neues Gewebe und neue Gefäße bilden. Auch in anderer Form könnte das Enzym des Krills künftig dem Menschen helfen: als wirksames Mittel gegen Zahnbelag.

mare No. 27

No. 27August / September 2001

Von Thomas Kerstan

Thomas Kerstan, Jahrgang 1958, ist Redakteur im Ressort „Chancen“ der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT. Dies ist sein erster Beitrag für mare

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