Nachrichten aus dem schwarzen Loch

Ausgerechnet am Grund der Tiefsee suchen Physiker mit einem riesigen Teleskop nach Relikten des Urknalls

Im Zentrum der Milchstrasse schlummert ein Monstrum. Ein schwarzes Loch, Millionen Mal schwerer als die Sonne, zugleich kleiner als ein Atom. Kraft seiner gewaltigen Gravitation saugt es alles auf, was ihm zu nahe kommt. Selbst Lichtstrahlen fallen dem Ungetüm zum Opfer und verschwinden in seinem pechschwarzen Schlund. An seinen Rändern jedoch gebiert das Loch einen stetigen Strom aus seltsamen Geisterteilchen. Schnell wie das Licht eilen die Schattenpartikel hinaus in die Weiten des Alls.

Nach einer 30000 Jahre währenden Reise erreichen sie die Erde. Dort, am Grund des Mittelmeers, entzündet eines der Teilchen einen bläulichen Lichtfunken. Glaskugeln, groß wie Medizinbälle, aufgereiht auf kilometerlange Seile, schnappen das schwache Glimmen auf. In einem Kontrollraum an Land brandet Jubel auf. Die Physiker haben ein „kosmisches Neutrino“ entdeckt – einen Kundschafter aus dem Herzen der Milchstraße.

Von diesem Szenario kann John Carr bislang nur träumen. Denn noch steht – oder besser taucht – sein Experiment nicht. Erst in ein paar Jahren wird „Antares“ fertig sein, eines der ungewöhnlichsten Teleskope der Welt. Keine Riesenschüssel auf einem Berg, sondern ein Geflecht aus 1000 Glaskugeln, abgesenkt in die Tiefen des französischen Mittelmeers. Statt Licht soll „Antares“ Neutrinos aufspüren, merkwürdige subatomare Teilchen. Das Forschergerät ist kein Einzelstück: Auch vor der Küste Griechenlands und im ewigen Eis der Antarktis üben sich Physiker an einer neuen Spielart der Astronomie, der Neutrinoteleskopie. Es soll die ungewöhnlichsten Gebilde erkunden, die es im Kosmos gibt – wie das schwarze Loch im Zentrum unserer Galaxis.

„Neutrinos interagieren so schwach mit Materie“, erläutert Carr, der am Zentrum für Teilchenphysik in Marseille arbeitet, „dass sie Hindernisse durchdringen können, die für Licht unüberwindlich sind.“ Die Folge: Einige Neutrinos kommen von ganz weit her, stammen aus den äußersten Regionen des Universums. Andere wurden im Inneren von Sternen und Galaxien geboren. Ließen sich, so Carrs Kalkül, diese kosmischen Kuriere einfangen, könnten die Astronomen in bislang unerreichte Tiefen des Alls und in die Kerne von Gestirnen und Milchstraßen blicken. „Vielleicht können wir sogar Relikte des Urknalls beobachten“, spekuliert Carr, „Neutrinos, die in den ersten Millisekunden nach dem ,Big Bang‘ erzeugt wurden.“

Doch die Angelegenheit ist schwierig. Gerade wegen ihres flüchtigen Charakters lassen sich Neutrinos extrem schwer einfangen. Es braucht riesige Nachweisgeräte, nahezu perfekt abgeschirmt gegen störende Einflüsse. Beste Voraussetzungen bietet die Tiefsee. Das Meer schirmt das Störfeuer der aus dem All kommenden kosmischen Strahlung weitgehend ab. Und: Im extrem reinen Tiefseewasser hinterlassen die Neutrinos – wenn auch sporadisch – verräterische Leuchtspuren.

Diese Spuren soll „Antares“, benannt nach dem hellsten Stern im Bild des Skorpions, aufschnappen. Das Prinzip: Im Mittelmeer vor Toulon, in 2,5 Kilometer Tiefe, verankern Carr und seine Crew Seile am Grund. Bojen halten die 500-Meter-Stränge in der Senkrechten. An jedem Seil sind 90 Lichtsensoren befestigt, eingebaut in medizinballgroße Glaskugeln, die einen Druck von 250 Bar aushalten.

„Das Areal soll später aus 13 Seilen mit insgesamt 1000 Glaskugeln bestehen“, sagt Carr. „,Antares‘ wird auf dem Meeresboden eine Fläche von zehn Fußballfeldern abdecken.“ Gleich Dutzende von

Sensoren werden anschlagen, wenn ein Neutrino vorbeikommt. Auf dem Computermonitor erscheint eine Leuchtspur. Sie verrät, aus welcher Ecke des Weltalls das Neutrino gekommen ist.

Die riesige Unterwasserkonstruktion ist für Carr und seine 130 Mitstreiter absolutes Neuland. „Um die Meerestechnik in den Griff zu kriegen, arbeiten wir eng mit einem französischen Institut für Ozeanographie“, erklärt der Engländer. „Gemeinsam entwickeln wir ein Sensorsystem, das die Bewegung der Kugeln in der Meeresströmung misst.“ Heikel auch die Anbindung von „Antares“ an die Küste. Ein 40 Kilometer langes Unterwasserkabel soll das Kontrollzentrum mit dem Detektor am Meeresgrund verbinden. Die Kugeln sind per Glasfaser miteinander vernetzt; ein ferngesteuertes U-Boot soll Tausende von Strippen ziehen. „Kritisch wird’s, wenn wir die ganze Sache in die Tiefsee bekommen wollen, ohne etwas zu beschädigen“, sagt Carr. „Ein spezielles Positionierungssystem erlaubt es uns, die Seile bis auf ein paar Meter genau abzusetzen.“

Bislang haben die Forscher das Abtauchen der kugelbehängten Stränge nur mit kleinen Modellen geübt. Jetzt wollen sie das erste Seil mit der endgültigen Technologie versenken; 2004 sollen alle 13 Stränge auf dem Meeresgrund stehen, jeder von ihnen 20 Millionen Euro teuer. John Carr ist optimistisch: „Wenn alles funktioniert, versuchen wir das Geld für einen Detektor aufzutreiben, der zehn Mal so groß ist.“ Dieses mediterrane Riesenteleskop soll dann nicht 1000, sondern 10000 Glasaugen auf die kosmischen Neutrinos richten. Erst damit, so glauben die Experten, wird die Suche nach den exotischen Himmelsboten richtig ergiebig.


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mare No. 32

No. 32Juni / Juli 2002

Von Frank Grotelüschen und Günter Radtke

Der Physiker Frank Grotelüschen, Jahrgang 1962, arbeitet als Wissenschaftsjournalist in Hamburg. Zuletzt schrieb er in mare No. 24 über das Phänomen der Superkavitation.

Günter Radtke, 1920-2018, war Chefgrafiker und Mitbegründer des Sterns. Er lebte in Uetze bei Hannover. Wissenschaftliche Visionen waren seine Leidenschaft.

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Vita Der Physiker Frank Grotelüschen, Jahrgang 1962, arbeitet als Wissenschaftsjournalist in Hamburg. Zuletzt schrieb er in mare No. 24 über das Phänomen der Superkavitation.

Günter Radtke, 1920-2018, war Chefgrafiker und Mitbegründer des Sterns. Er lebte in Uetze bei Hannover. Wissenschaftliche Visionen waren seine Leidenschaft.
Person Von Frank Grotelüschen und Günter Radtke
Vita Der Physiker Frank Grotelüschen, Jahrgang 1962, arbeitet als Wissenschaftsjournalist in Hamburg. Zuletzt schrieb er in mare No. 24 über das Phänomen der Superkavitation.

Günter Radtke, 1920-2018, war Chefgrafiker und Mitbegründer des Sterns. Er lebte in Uetze bei Hannover. Wissenschaftliche Visionen waren seine Leidenschaft.
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