Müssen geflüchtete aus Seenot gerettet werden?

Eine scheinbar komplizierte juristische Frage und die einfache Antwort ­darauf von ­einer renommierten Seerechtlerin

Der Mensch nutzt das Meer seit Jahrhunderten, um sich darauf fortzubewegen. Manchmal nur, um in die nächste Bucht zu gelangen. In der Vergangenheit auch, um vermeintlich unbewohntes Land für eine westliche Krone zu unterwerfen. Außerdem führen Menschen Kriege auf dem Meer, sie forschen, treiben Handel und begeben sich hinaus zum Vergnügen oder zur Flucht. Zwischen dem, was wir – nicht unproblematisch – das „Zeitalter der Entdeckun­gen“ des 15. und 16. Jahrhunderts nennen, und der Kreuzfahrtindustrie unserer Zeit haben Menschen den Weg über das Meer immer genutzt, um sich vor Unterdrückung, Verfolgung, bewaffneten Konflikten und Hungersnot zu retten. Teilweise einzeln, teilweise in Wellen und zu Tausenden verlassen Frauen, Männer und Kinder ihre Heimat, um von einer oftmals weit entfernten Küste aus über das Meer zu fliehen. 

Die Gründe sind vielfältig, häufig vermischen sie sich. Der Klimawandel, die damit verbundenen Dürren, Überflutungen und Wetterereignisse, sich verschärfende Konflikte über Wasser, Weide- und Ackerland tragen auch zukünftig dazu bei, dass Menschen sich auf das Meer begeben. Doch dieser Weg ist gefährlich. Die hohe Zahl der ertrunkenen und vermissten Menschen ist eindeutig. Die Internationale Organisation für Migration zählt für das Mittelmeer über 26 000 Menschen in der Rubrik „dead/missing“ seit dem Jahr 2014. Zu den weiteren Fluchtbewegungen über das Meer gehören der Weg von Kuba nach Florida, die vietnamesischen boat people der 1970er- und 1980er-Jahre, die Flucht der Rohingya aus Myanmar und Bangladesch in andere asiatische Staaten sowie weltweite Migration mit dem fast aussichtslosen Ziel, Australien als Zufluchtsort auf dem Seeweg zu erreichen.

Müssen Menschen aus Seenot gerettet werden? Die Antwort liegt auch ohne Rechtskenntnisse aus humanitären Gründen auf der Hand. Und doch wird diese Frage gestellt. Nicht, wenn der Kapitän eines Kreuzfahrtschiffs einen Felsen rammt und sein Schiff manövrierunfähig zur Seite kippt. Aber dann, wenn Menschen sich Schleppern anvertrauen und in der Dunkelheit der libyschen Küste ein überfülltes Schlauchboot besteigen. Sie hätten zur Seenot beigetragen und seien daher weniger schutzwürdig, heißt es in einigen Medien. Das internationale Seerecht fragt hingegen nicht nach dem Beitrag der in Not befindlichen Personen zu ihrer Situation und auch nicht nach ihrem Pass oder Status. 

Das Internationale Übereinkommen über Seenotrettung hebt dies in Bestimmung 2.1.10 hervor. Wer als Kapitänin oder Kapitän eines Schiffs auf See eine Notlage vorfindet, muss retten. Art.  98 Abs. 1 des Seerechtsübereinkommens (SRÜ) ist da ganz eindeutig. Diese Pflicht formulieren internationale Verträge bereits seit dem frühen 20.  Jahrhundert. Dazu gehört auch das Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See, das die Pflicht zur Rettung in Kapitel  V Regelung 10 aufgenommen hat. 

Einen frühen Vorläufer dieses Vertrags entwarfen die Staaten bereits 1914 als Reaktion auf den Untergang der RMS „Titanic“. Die Rettungspflicht gilt universell für alle Flaggenstaaten, ist in den na­tio­nalen (Straf-)Gesetzen verankert. § 2 der Verordnung über die Sicherung der Seefahrt verpflichtet deutsche Schiffe zur Seenotrettung. Wird die Pflicht verletzt, kann dies in Deutschland als unterlassene Hilfeleistung nach § 323c Abs. 1 StGB grundsätzlich auch strafbar sein.

Die Situation im Mittelmeer hat einige neue rechtliche Fragen aufscheinen lassen. Darf ein privates Rettungsschiff auf Hoher See auf Seenotfälle warten? Hilft es den Schleppern, wenn es auf Lichtzeichen reagiert? Darf nur die libysche Küstenwache in der libyschen Rettungszone tätig sein? Die Freiheit der Hohen See lässt private Seenotmissionen, einschließlich des Wartens auf Unglücksfälle, grundsätzlich zu. Die Ausweisung einer Rettungszone nach den Bestimmun­gen des Internationalen Übereinkommens über Seenotrettung ändert daran nichts. 

Die nationalen Gerichte der Staaten, in denen gerettete Menschen ausgeschifft werden, sehen die Frage der Beihilfe zur Schlepperei aber unterschiedlich. Notwendig geworden sind private Rettungsschiffe vor allem deshalb, weil staatliche Programme eingestellt worden sind, in dem Irrglauben, schlechtere Aussichten auf Rettung würde Menschen, die einen halben Kontinent durchquert und das gesamte Vermögen ihrer Familie an Kriminelle bezahlt haben, davon abhalten, ein wackeliges Boot zu besteigen.


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mare No. 160

mare No. 160Oktober / November 2023

Von Nele Matz-Lück

Nele Matz-Lück, Jahrgang 1973, ist Professorin für Seerecht. Das Thema der Seenotrettung liegt ihr beson­ders am Herzen, weil sie die Verzweiflung ­derer, die bei Nacht und Wellengang sich und ihre Kinder in ein wackeliges Boot setzen, zum Glück nicht selbst erfahren musste, aber mitfühlen kann und glaubt, dass die Welt mehr Mitgefühl gut ver­tragen kann.

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Vita Nele Matz-Lück, Jahrgang 1973, ist Professorin für Seerecht. Das Thema der Seenotrettung liegt ihr beson­ders am Herzen, weil sie die Verzweiflung ­derer, die bei Nacht und Wellengang sich und ihre Kinder in ein wackeliges Boot setzen, zum Glück nicht selbst erfahren musste, aber mitfühlen kann und glaubt, dass die Welt mehr Mitgefühl gut ver­tragen kann.
Person Von Nele Matz-Lück
Vita Nele Matz-Lück, Jahrgang 1973, ist Professorin für Seerecht. Das Thema der Seenotrettung liegt ihr beson­ders am Herzen, weil sie die Verzweiflung ­derer, die bei Nacht und Wellengang sich und ihre Kinder in ein wackeliges Boot setzen, zum Glück nicht selbst erfahren musste, aber mitfühlen kann und glaubt, dass die Welt mehr Mitgefühl gut ver­tragen kann.
Person Von Nele Matz-Lück