Museum mit göttlicher Perspektive

Das Musée de la Marine in Paris. Die liebevoll und detailgetreu gefertigten Schiffsmodelle wecken eine Sehnsucht: Selber schrumpfen können

Er ist aus Holz und vergoldet. Legte man ihn auf diese mare-Seite, so würde er von Kopf bis Fuß gerade einmal über zwanzig Zeilen reichen. Das goldene Püppchen stellt Ludwig den Fünfzehnten von Frankreich dar. Als Galionsfigur im Aufzug eines römischen Generals klebt Seine Majestät am Bug der „Louis XV“, einer französischen Kriegsfregatte des 17. Jahrhunderts. Dem damaligen Vorbild des goldenen Däumlings, dem großen König selbst, schenkte vor genau 250 Jahren sein „Inspecteur Général de la Marine“, Louis Henri Duhamel du Monceau, eine Sammlung von Schiffsmodellen. Im Laufe der Jahrhunderte wuchs daraus die weltweit älteste und umfangreichste Sammlung historischer Modelle, beheimatet im „Musée de la Marine“ in Paris.

Ein Vierteljahrtausend ist seit dem Gründungsjahr verflossen; viele Jahrtausende aber sind in den Ausstellungsstücken konserviert. Die Äonen von Arbeitsstunden feinster Handwerkskunst nämlich, die in diesen Preziosen stecken, lassen sich nicht nach Tagen oder Monaten zählen. Jahre und Jahrzehnte peinlichster Kleinarbeit haben aus kostbaren Materialien und aus Strömen stoischer Geduld die treuen Ebenbilder der großen Schiffe ihrer Zeit geschaffen. Endlose hingebungsvolle Stunden im Umgang mit Drittelmillimetern und Pinseln aus zwei Haaren füllten die Leben der Modellbauer. Früher gingen die Uhren langsamer, man hatte Zeit. Nehmen wir uns heute also ein wenig Zeit für Werke aus einer anderen, sehr, sehr langsamen Zeit.

Wie wird ein Millimeter gedrittelt? Wieviel Farbe fassen zwei Marderhaare? Uhrmacher arbeiten so, Feinmechaniker oder Hirnchirurgen vielleicht, auf jeden Fall aber Modellbauer. Mitten im Musée de la Marine gibt es eine Werkstatt mit einem großen Glasfenster. Dahinter sitzen die drei Modellbauer, die die Sammlung betreuen und instand halten. Nähertreten lohnt sich. Planken, ein drittel Millimeter breit, Galeerenruder wie Zahnstocher, Masten wie trockene Sommergräser und Takelagen wie Spinnweben.

Zwanzigmal, vierzigmal, hundertmal kleiner als ihre großen Schwestern stehen die Diven der Seefahrt, die „Santa Maria“, die „Belle Poule“ oder die „Normandie“, vor dem Betrachter und wecken eine große Sehnsucht: selber schrumpfen können! Um das Zwanzig-, Vierzig-, Hundertfache schrumpfen können und als Käferchen verschwinden in den dunklen Zwischendecks, als Ameise emporklettern an den fadendünnen Wanten, als müßiger Tausendfüßler auf einem fingerschmalen Promenadendeck herumlümmeln!

Auf den ersten Blick macht die alte Sammlung einen ehrwürdig verstaubten Eindruck und langweilt den hastigen Besucher ohne Zeit. Erst dem müßig Schauenden enthüllt sich ihr Zauber. Die Dinge haben eine Sprache, aber sie sprechen leise. Diese Modelle und Objekte schreien nicht nach Aufmerksamkeit. Nichts an ihnen blinkt oder quietscht. Keine Multivisions-, Installations-, Animations-, Erlebnis-Museums-Inszenierung buhlt um Aufmerksamkeit, stört die ruhige Betrachtung. Staub bestimmt das Ambiente. Staub, der sich in Ruhe setzen konnte. Staubkörner auf stecknadeldünnen Rahen, auf seidenfeinen Segeln, auf fingernagelkleinen Achterdecks, Staub auf dem hölzernen Köpfchen des fünfzehnten Louis.


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mare No. 8

No. 8Juni / Juli 1998

Von Hansjörg Gadient

Musée de la Marine, Palais de Chaillot. Place du Trocadéro, Paris; Telefon: +33/1/53656969; geöffnet: täglich 10–18 Uhr, dienstags geschlossen

Hansjörg Gadient ist im August 1962 in Davos zur Welt gekommen, hat an der ETH in Zürich und der Hochschule der Künste Berlin Architektur und Städtebau studiert und 1990 diplomiert. An beiden Hochschulen hat er als Lehrbeauftragter und Oberassistent Architektur unterrichtet. Nach Engagements als Stadtplaner in Berlin und als Chefredaktor in Zürich arbeitet er heute als Professor für Landschaftarchitektur an der Hochschule für Technik in Rapperswil. Sein erster Beitrag für mare erschien in der Nullnummer und dann auch in der ersten Ausgabe im April 1997: „Freiheit erleuchtet die Welt“. Darin war die Freiheitsstatue in New York eines der Themen des Schwerpunktes Transatlantik. Seither hat er in unregelmäßigen Abständen Reportagen zu verschiedensten Themen in mare publiziert, unter anderem über das Lächeln eines toten Hais, über die Leichen in den Arbeiten des schottischen Künstler Steve Dilworth oder über die Liebe von Le Corbusier zu Josephine Baker.

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Vita Musée de la Marine, Palais de Chaillot. Place du Trocadéro, Paris; Telefon: +33/1/53656969; geöffnet: täglich 10–18 Uhr, dienstags geschlossen

Hansjörg Gadient ist im August 1962 in Davos zur Welt gekommen, hat an der ETH in Zürich und der Hochschule der Künste Berlin Architektur und Städtebau studiert und 1990 diplomiert. An beiden Hochschulen hat er als Lehrbeauftragter und Oberassistent Architektur unterrichtet. Nach Engagements als Stadtplaner in Berlin und als Chefredaktor in Zürich arbeitet er heute als Professor für Landschaftarchitektur an der Hochschule für Technik in Rapperswil. Sein erster Beitrag für mare erschien in der Nullnummer und dann auch in der ersten Ausgabe im April 1997: „Freiheit erleuchtet die Welt“. Darin war die Freiheitsstatue in New York eines der Themen des Schwerpunktes Transatlantik. Seither hat er in unregelmäßigen Abständen Reportagen zu verschiedensten Themen in mare publiziert, unter anderem über das Lächeln eines toten Hais, über die Leichen in den Arbeiten des schottischen Künstler Steve Dilworth oder über die Liebe von Le Corbusier zu Josephine Baker.
Person Von Hansjörg Gadient
Vita Musée de la Marine, Palais de Chaillot. Place du Trocadéro, Paris; Telefon: +33/1/53656969; geöffnet: täglich 10–18 Uhr, dienstags geschlossen

Hansjörg Gadient ist im August 1962 in Davos zur Welt gekommen, hat an der ETH in Zürich und der Hochschule der Künste Berlin Architektur und Städtebau studiert und 1990 diplomiert. An beiden Hochschulen hat er als Lehrbeauftragter und Oberassistent Architektur unterrichtet. Nach Engagements als Stadtplaner in Berlin und als Chefredaktor in Zürich arbeitet er heute als Professor für Landschaftarchitektur an der Hochschule für Technik in Rapperswil. Sein erster Beitrag für mare erschien in der Nullnummer und dann auch in der ersten Ausgabe im April 1997: „Freiheit erleuchtet die Welt“. Darin war die Freiheitsstatue in New York eines der Themen des Schwerpunktes Transatlantik. Seither hat er in unregelmäßigen Abständen Reportagen zu verschiedensten Themen in mare publiziert, unter anderem über das Lächeln eines toten Hais, über die Leichen in den Arbeiten des schottischen Künstler Steve Dilworth oder über die Liebe von Le Corbusier zu Josephine Baker.
Person Von Hansjörg Gadient