Muschelsuchers Finderglück

Ein Taucher kann nach Muscheln tauchen oder nach alten Schätzen. Oder nach beidem. Kostbarkeiten sind es allemal

Die Sicht war mässig, fünf, sechs Meter vielleicht, dann und wann kam eine kalte Strömung, und es waren für kurze Zeit zehn. Das Wasser war voller Schlieren, Sand und Schlick, der sich in regelmäßigen Stößen vom Meeresgrund zu lösen schien. Richard Keen ließ sich tiefer und tiefer sinken, und dann, als er schon glaubte, das Echolot habe sich geirrt, sah er es. Nur wenige Sekunden gaben die langen Algengewächse den Blick frei, dennoch konnte er die Schiffsschraube deutlich erkennen: breit wie zwei Mann, im Seebett ruhend wie der Rest des Schiffes, in dessen mit Muscheln bewachsenem Skelett Richard Keen nun tauchte. Dass sein Herz schneller schlug, lag wohl kaum an der Enge des Schiffskörpers. Es war Juni, und Keen, der tagtäglich vor Guernsey nach Jakobsmuscheln tauchte, um seine Familie zu ernähren, hatte gerade den Fund seines Lebens gemacht. Das Gerippe, das er vor sich sah, gehörte zweifellos der „Stella“.

Das Schiff war 1899 vor Alderney auf ein Riff gelaufen, das seinen Rumpf aufschlitzte. Nur acht Minuten später trieben auf der Meeresoberfläche bloß noch ein paar Rettungsboote. Die „Stella“ war fort und mit ihr 105 Menschenleben. Nun lag ihr Gerippe vor Keen im Sand. Und plötzlich wurde er sich all des Schmerzes, den das Unglück auf die Kanalinseln gebracht hatte, so gewahr, dass er davonschwamm und 20 Jahre niemandem von seinem Fund erzählte. Nur gelegentlich kam er zurück, um in den Trümmern zu tauchen, sammelte dabei Jakobsmuscheln, die er an das Restaurant „La Frégate“ verkaufte, eines der besten der Inseln.

„Die Jakobsmuschel“, sagt Keen, „ist ein gnädiger Ernährer. Liegt einfach da im Sand. Man muss sie nur aufheben, wie Fallobst.“ Er schiebt mit der Gabel auf seinem Teller herum, drei fleischige Muscheln wie Schiffe in der Soße, dampfender Knoblauchsud steigt auf. Er schubst ein Stück auf die Zinken, verspeist die Muscheln und zeigt mit der Gabel aufs offene Meer vor Guernsey hinaus. Beinahe jeden Tag taucht er dort, Sommer wie Winter, immer im Wetsuit. Er sei, sagt er, zweifellos der Mann mit den meisten Tauchgängen Europas, vielleicht sogar der Welt. „Ich bin jetzt 58. Mit 16 habe ich angefangen, für Restaurants zu tauchen, für 20 Pfund am Tag. Mehr als ein Jahr meines Lebens habe ich unter Wasser verbracht, immer auf der Suche nach Jakobsmuscheln.“ Keen hält einem seine Pranken hin, die vom Salzwasser gegerbt sind wie Handschuhe. Er nähme nur die großen Tiere, nicht die kleinen, so sei der Nachschub gesichert. Und nie mehr als 20 oder 30 Stück am Tag, die er dann für etwa 150 Pfund verkauft.

Keen, der Muscheltaucher, ist längt zu Keen, dem Meeresarchäologen, geworden. Die nahen Museen seufzen, die Kapazitätsgrenzen sind längst überschritten, aber es hilft nichts. „Wenn ich lange tauche, dann finde ich auch etwas“, sagt Keen. „Es ist fast so, als würden die Artefakte darauf warten, von mir gefunden zu werden.“

Jahrhundertelang lag im Hafen von Guernsey das Wrack einer römischen Handelsgaleere, unerkannt, bis Keen beim Muscheltauchen auf ein seltsames Holzstück stieß. Der Laderaum war voller Amphoren mit Fischsauce. Ein anderes Schiff, um 290 n. Chr. gesunken, hatte Weizen und Pech geladen. Dazu fand Keen vier Wracks mittelalterlicher Schiffe, Amphoren, Kanonen. 5000 Artefakte sind es bis heute. „Für mich sind nicht Gold und Silber wichtig, sondern die kleinen Dinge, solche, die Geschichten über die Menschen erzählen. Die Leute fragen mich immer, ob ich einen Schatz gefunden habe in all den Jahren. Darauf antworte ich immer: Ask no questions, I will tell no lies.“

Sowieso geht ihm nichts über Muscheln. Er verkauft sie inzwischen nur noch ans „Frégate“ und das Restaurant eines Freundes. „Ich arbeite nur für Menschen, die höchste Qualität schätzen. Alles andere erscheint mir sinnlos.“ Hier, im „Frégate“ mit Blick auf den Hafen, brät der Koch die Muscheln immer noch in Butter, heute wie damals. Sie sind köstlich.

Wir danken VisitGuernsey (www.visitguernsey.com) für die freundliche Unterstützung.

Jakobsmuscheln à la „Frégate“

Zutaten (für vier Personen)

12 Jakobsmuscheln (ohne Schale), 12 Scheiben Pancetta (italienischer Bauchspeck vom Schwein), 250 g Blattsalat, 150 g grüne Bohnen, 200 g eingelegte Artischocken, 100 g Butter. Für das Dressing: 50 g geröstete Pinienkerne, 100 g fein gehackte Schalotten, 15 ml Pflanzenöl, 10 ml Olivenöl, Dijonsenf, 10 ml Weißweinessig.

Zubereitung

Das Muschelfleisch in Pancetta wickeln und zwei Minuten in Butter braten, dann kurz im Backofen goldfarben grillen. Derweil Salat, Bohnen und Artischocken mundgerecht zerkleinern und mischen, auf einem Teller anrichten, die Muscheln darauf geben, alles mit Dressing beträufeln und servieren.

La Frégate Hotel & Restaurant
Les Cotils, St. Peter Port, Guernsey, Tel: +44 1481 724624, enquiries@lafregatehotel.com

  mare No. 72

No. 72Februar / März 2009

Von Susanne Frömel und Stefan Pielow

Susanne Frömel wurde 1974 in München geboren und wuchs in Bonn auf. Mit dem Regierungsumzug kam sie nach Berlin, wo sie die Springer-Journalistenschule besuchte. Seit 2000 arbeitet sie als freie Autorin, vor allem für Geo, Das Magazin (Schweiz) und auch für mare. Sie schreibt hauptsächlich Reportagen und Portraits.

Stefan Pielow, geboren 1961, ist im Münsterland aufgewachsen und ging nach dem Abitur als freier Fotoassistent nach Hamburg. Nach dreijähriger Praxis studierte er an der Folkwangschule Essen Fotografie. Während des Studiums produzierte er seine ersten Reportagen für den Stern und das ZEITmagazin. Später spezialisierte er sich immer mehr auf das inszenierte Portrait. Als freier Mitarbeiter beim Stern fotografierte er zahlreiche Lifestylethemen sowie Prominente im In- und Ausland. Stefan Pielow arbeitet heute als freier Fotograf für internationale Magazine, Firmen und Agenturen.Seit 2002 lebt Stefan Pielow mit seiner Frau und zwei Töchtern in Starnberg.

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Vita Susanne Frömel wurde 1974 in München geboren und wuchs in Bonn auf. Mit dem Regierungsumzug kam sie nach Berlin, wo sie die Springer-Journalistenschule besuchte. Seit 2000 arbeitet sie als freie Autorin, vor allem für Geo, Das Magazin (Schweiz) und auch für mare. Sie schreibt hauptsächlich Reportagen und Portraits.

Stefan Pielow, geboren 1961, ist im Münsterland aufgewachsen und ging nach dem Abitur als freier Fotoassistent nach Hamburg. Nach dreijähriger Praxis studierte er an der Folkwangschule Essen Fotografie. Während des Studiums produzierte er seine ersten Reportagen für den Stern und das ZEITmagazin. Später spezialisierte er sich immer mehr auf das inszenierte Portrait. Als freier Mitarbeiter beim Stern fotografierte er zahlreiche Lifestylethemen sowie Prominente im In- und Ausland. Stefan Pielow arbeitet heute als freier Fotograf für internationale Magazine, Firmen und Agenturen.Seit 2002 lebt Stefan Pielow mit seiner Frau und zwei Töchtern in Starnberg.
Person Von Susanne Frömel und Stefan Pielow
Vita Susanne Frömel wurde 1974 in München geboren und wuchs in Bonn auf. Mit dem Regierungsumzug kam sie nach Berlin, wo sie die Springer-Journalistenschule besuchte. Seit 2000 arbeitet sie als freie Autorin, vor allem für Geo, Das Magazin (Schweiz) und auch für mare. Sie schreibt hauptsächlich Reportagen und Portraits.

Stefan Pielow, geboren 1961, ist im Münsterland aufgewachsen und ging nach dem Abitur als freier Fotoassistent nach Hamburg. Nach dreijähriger Praxis studierte er an der Folkwangschule Essen Fotografie. Während des Studiums produzierte er seine ersten Reportagen für den Stern und das ZEITmagazin. Später spezialisierte er sich immer mehr auf das inszenierte Portrait. Als freier Mitarbeiter beim Stern fotografierte er zahlreiche Lifestylethemen sowie Prominente im In- und Ausland. Stefan Pielow arbeitet heute als freier Fotograf für internationale Magazine, Firmen und Agenturen.Seit 2002 lebt Stefan Pielow mit seiner Frau und zwei Töchtern in Starnberg.
Person Von Susanne Frömel und Stefan Pielow