Muschelseide – „Gesponnenes Gold“

Ein hauchdünner Faden vom Meeresgrund ist das wohl kostbarste natürliche Textilmaterial

Pinna nobilis. Majestätisch ist sie, die Edle Steckmuschel, mit bis zu einem Meter Länge die größte Muschel des Mittelmeeres. Aristoteles nannte sie die „seidentragende Muschel“, auch als „Spinnerin aus der See“ oder „Seeseidenraupe“ war sie bekannt. Unter den Fischern in Sardinien heißt sie bis heute „Königin der Meere“. Sie lieferte Nahrung fürs Volk und Perlmutt für Knöpfe. Einst schmückten ihre unregelmäßig geformten, vielfarbigen Perlen im Balkan Messergriffe. Und als Lampenschirme oder Servierplatten geben ihre durchscheinenden, zerbrechlichen und für ihre Größe erstaunlich zarten Schalen heute noch mancher touristischen Einrichtung in Südeuropa den lokalen Touch.

Seit der Antike berühmt und gesucht aber war die Pinna nobilis in erster Linie für ihren Faserbart, Byssus (griechisch-lateinisch: feiner Flachs) genannt, mit dem sie sich im sandigen Untergrund verankert. Der daraus hergestellte Stoff ist das wohl kostbarste natürliche Textilmaterial: die Muschelseide. Sie kleidete einst Könige und Päpste, Krieger und Kurtisanen. Alte Texte sprechen von Ornaten und sakralen Gewändern, von robusten Reitermänteln und Gespinsten, zart wie Gaze.

Eine Rarität war sie zu allen Zeiten. Der lateinische Kirchenschriftsteller Tertullian wunderte sich um das Jahr 200: „Nicht war es genug, die Stoffe der Tunika zu kämmen (Wolle) und zu pflanzen (Leinen oder Baumwolle); nein, man fand es auch nötig, den Kleiderstoff zu fischen, denn auch aus dem Meere holt man Vliese, wo Muscheln von beträchtlicher Größe mit Büscheln versehen sind.“

Die Muschelseide hat schon immer die Phantasie angeregt. Quer durch die Jahrhunderte ranken sich zahlreiche Legenden um sie. Vom Goldenen Vlies des Jason in der griechischen Mythologie über Kultgegenstände zu König Salomons Zeiten, vom hell glänzenden Waffenrock im Parzival bis zur unbrennbaren Feuerwehrweste um die letzte Jahrhundertwende: Wo immer im Laufe der Geschichte von phantastischen Geweben die Rede war, dachte irgendwer irgendwann an Muschelseide.

Was ist historisch belegt? Überliefert ist ein reger Handel mit Muschelseide – auch Seeseide oder Byssus-Seide genannt – seit dem Altertum und bis ins Mittelalter, vor allem in Griechenland, Indien und Arabien, wo sie Meerwolle genannt wurde. In Italien war die Hafenstadt Tarent, mächtigste Stadt Großgriechenlands im Süden des Stiefels, neben der Purpur- auch ein Zentrum der Muschelseideproduktion. Procop, ein byzantinischer Geschichtsschreiber um das Jahr 500, berichtet von einem „aus Wolle gemachten Mantel, nicht wie die, die von den Schafen herkommt, sondern aus dem Meer gesammelt. Man pflegt die Lebewesen ‚Pinnoi‘ zu nennen, aus denen diese Wolle herauswächst“. Der griechische Gelehrte Philes erwähnt das haarartige, feine Gewebe der Pinna um 1300.

Tatsächlich ein erstaunliches Material. Ein zähflüssiges Eiweißsekret rinnt aus der Byssusdrüse, die an der Basis des Fußes der Steckmuschel liegt, erstarrt im Kontakt mit dem Wasser. So entsteht ein hornartiger Faden, an dessen Ende sich kleine Haftplättchen befinden, mit denen sich die Muschel an Sandkörnern, Steinen und Felsen befestigt. Je nach Größe und Alter der Muschel werden die Fäden bis zu 20 Zentimeter lang, die Farbe variiert von olivgrün, braun, schwarz bis zum begehrten schimmernden Gold. Diese Byssusfäden – feiner als der feinste Seidenfaden, doch überaus zäh und widerstandsfähig – bilden den Rohstoff für die Muschelseide.

Die Edle Steckmuschel lebt hauptsächlich in Seegraswiesen des Mittelmeeres, meist in Küstennähe ab etwa zwei Meter Tiefe. Trotz ihres bis vor wenigen Jahrzehnten häufigen Vorkommens war die Ernte für die spezialisierten Taucher ohne die heutigen Hilfsmittel wie Schnorchel oder Tauchermaske beschwerlich und aufwendig. Die Steckmuschel ließ sich nicht einfach entfernen, denn die Gefahr war groß, die dünnwandigen Schalen zu zerbrechen oder die Muschel ohne den Byssus auszureißen. Die Taucher waren deshalb gezwungen, sich auf den Meeresgrund zu setzen, mit den Fingern den die Muscheln umgebenden Sand zu lockern und dabei die Muschel sanft aus dem Untergrund zu ziehen.

Nicht immer gelang dies auf Anhieb. Auf einem mitgeführten Korkfloß holten die Taucher Atem, um mit einem zweiten oder dritten Tauchgang die Muschel an die Oberfläche zu bringen, schrieb Ende des 18. Jahrhunderts der italienische Naturforscher Giuseppe Saverio Poli (1746 –1825) in seinem mit detailreichen Zeichnungen ausgestatteten, auf Latein verfaßten Werk über die Muscheln Siziliens.

Es kamen aber auch verschiedene Arten von Gabeln, Rechen und Stecheisen zur Anwendung. In Tarent, berichtete Poli in der deutschen Ausgabe, wurde eigens eine Greifzange erfunden, der „Pernonico, welcher aus zwei halbrunden, am Ende miteinander verbundenen Eisenstäben besteht. An dem einen Ende ist ein hölzerner Zapfen, an dem anderen ein Ring und Strick angebracht. Die Fischer steuern das Boot nach der Stelle, wo die Pinna durch das klare Wasser sichtbar ist, lassen den Pernonico nieder, und wenn dieser die Pinna durch Umfassen mit den Eisenstäben losgemacht und umwunden, ziehen sie sie ins Boot herauf.“

Der Schweizer Naturforscher und Schriftsteller Carl Ulysses von Salis Marschlins (1760 –1818) beschreibt in seinem 1793 erschienenen Buch „Reisen in verschiedene Provinzen des Königreichs Neapel“ ausführlich die weitere Verarbeitung: Sobald eine genügende Anzahl Muscheln vorhanden war, wurden sie geöffnet und der Byssus abgeschnitten. Nach Entfernen der Verunreinigungen – Algen, Sand, kleine Muscheln und Schnecken – wurde der Byssus mit Seife gewaschen, mehrmals in lauem Wasser gespült und anschließend an einem kühlen, schattigen Ort zum Trocknen ausgebreitet. Noch leicht feucht, wurde er zwischen den Händen sanft gerieben, womit er seine Sprödigkeit verlor.

Danach, so Naturforscher von Salis Marschlins, „wird die Seide durch den weiten Kamm gezogen, und hernach durch den engen. Alsdann wird sie mit der Spindel in der Hand gesponnen und mit den Nadeln nicht nur Handschuhe, Strümpfe und Westen, sondern ganze Kleider gestrickt. Sobald das Stück fertig ist, wird es in hellem Wasser, welches mit Citronensaft vermischt seyn muß, gewaschen, dann zwischen den Händen ein wenig ausgeklopft, endlich aber mit einem warmen Eisen ausgeglättet. Die schönsten haben eine zimmetbraune, goldglänzende Farbe, welche die angenehmste Wirkung hervorbringt.“

Nach anderen Quellen wurde der Roh-Byssus gleich nach dem Waschen in reinen Zitronensaft eingelegt. Dadurch sei die golden irisierende Farbe hervorgerufen worden, die an den begehrten Schimmer auf den Flügeln des Goldkäfers oder an Goldstaub erinnerte.

Auch Johann Hermann von Riedesel (1740 –1785), preußischer Botschafter in Wien, machte auf seiner „Reise durch Sicilien und Großgriechenland“ 1767 Station in Tarent, beobachtete die Gewinnung und Verarbeitung von Muschelseide und notierte fein säuberlich deren Preise. Er vermerkte auch, daß die Muschelseide oft mit normaler Seide verzwirnt wurde, „damit sie mehr Festigkeit bekomme, wodurch sie aber die Gelindigkeit und Wärme verliert“.

Wunderbar weich und geschmeidig sollen Gewebe aus Muschelseide gewesen sein, aber auch nützlich bei Rheuma und Gicht, schützend gegen Hitze, Kälte und Feuchtigkeit. Schweißhindernd sogar und überaus dauerhaft – fast denkt man bei all diesen Eigenschaften an moderne High-Tech-Textilien. Reiche Römer kleideten sich in Togen aus Muschelseide, und bei vornehmen Römerinnen galt sie als Inbegriff von Luxus – nicht nur für Gewänder, sondern auch für falsche Haare: „Flicht sich ein Mädchen diese Fäden in das blonde Haar, so übt sie einen unwiderstehlichen Zauber auf die Männer aus“, berichtet Philes, der griechische Gelehrte.


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mare No. 13

No. 13April / Mai 1999

Von Felicitas Maeder

Felicitas Maeder, Jahrgang 1946, leitet die Verwaltung des Forschungsprogramms Mensch – Gesellschaft – Umwelt der Universität Basel. Als Freiwillige Mitarbeiterin des Naturhistorischen Museums Basel gestaltete sie 1997 eine kleine Ausstellung über Biologie und Geschichte der Muschelseide. Zur Zeit erstellt sie ein Inventar aller in europäischen Museen und Sammlungen vorhandenen Objekte aus Muschelseide und sucht besonders in privaten Sammlungen und Kuriositätenkabinetts nach bisher unidentifizierten Gegenständen (Hinweise an: maeder@ubaclu.unibas.ch). Dies ist ihr erster Beitrag in mare

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Vita Felicitas Maeder, Jahrgang 1946, leitet die Verwaltung des Forschungsprogramms Mensch – Gesellschaft – Umwelt der Universität Basel. Als Freiwillige Mitarbeiterin des Naturhistorischen Museums Basel gestaltete sie 1997 eine kleine Ausstellung über Biologie und Geschichte der Muschelseide. Zur Zeit erstellt sie ein Inventar aller in europäischen Museen und Sammlungen vorhandenen Objekte aus Muschelseide und sucht besonders in privaten Sammlungen und Kuriositätenkabinetts nach bisher unidentifizierten Gegenständen (Hinweise an: maeder@ubaclu.unibas.ch). Dies ist ihr erster Beitrag in mare
Person Von Felicitas Maeder
Vita Felicitas Maeder, Jahrgang 1946, leitet die Verwaltung des Forschungsprogramms Mensch – Gesellschaft – Umwelt der Universität Basel. Als Freiwillige Mitarbeiterin des Naturhistorischen Museums Basel gestaltete sie 1997 eine kleine Ausstellung über Biologie und Geschichte der Muschelseide. Zur Zeit erstellt sie ein Inventar aller in europäischen Museen und Sammlungen vorhandenen Objekte aus Muschelseide und sucht besonders in privaten Sammlungen und Kuriositätenkabinetts nach bisher unidentifizierten Gegenständen (Hinweise an: maeder@ubaclu.unibas.ch). Dies ist ihr erster Beitrag in mare
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