Möwenherz

Egal ob Hochsee oder Strand, Stadt oder Müllkippe – die Möwe erobert sich jeden Lebensraum, der in ihrem Aktionsradius liegt

Die Möwen sehen alle aus“, schrieb Christian Morgenstern, „als ob sie Emma hießen.“ Wie der Dichter zu dieser Einschätzung gelangte, ist nicht überliefert. Doch sein „Möwenlied“ reflektiert ein positives Bild der eleganten Vögel, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts offenbar noch vorherrschte.

Seeleuten dienten die Tiere damals, vor den Zeiten der GPS-Navigation, als Boten des nahen Festlands. Der sonst mit menschelnden Wertungen und Kritik nicht geizende Tiervater Brehm pries die Intelligenz und gewandten Flugkünste der „Raben der Meere“, und die Mormonen im amerikanischen Bundesstaat Utah machten die Tiere, die die ersten Siedler um John R. Young im Auftrag Gottes vor einer Heuschreckenplage gerettet hatten, gar zum offiziellen Staatsvogel.

Die Liebe zu den Vögeln ging in alten Zeiten aber auch durch den Magen. Möweneier, frisch von der Klippe, waren für viele norwegische Gutsbesitzer noch um die vorletzte Jahrhundertwende die wichtigste Quelle von Einkünften, und auch die gebratenen Jungvögel ergaben, geschickt zubereitet, „wirklich ein erträgliches Gericht“, wie „Brehms Tierleben“ berichtet. Selbst die Federn der Tiere fanden Verwendung als Bettenfüllung der skandinavischen Unterschicht. Noch in den Siebzigern wurde die in immer gewagteren Flugmanövern nach Freiheit und Selbstverwirklichung suchende Möwe Jonathan aus Richard Bachs gleichnamigen Bestseller zum tierischen Vorbild der Hippie-Generation.

Heutzutage sind die Assoziationen nicht immer so schmeichelhaft. Im Animationsfilm „Findet Nemo“ um einen verloren gegangenen Clownfisch etwa werden Möwen als sprachlich minderbegabte Dumpfbacken inmitten einer munter quasselnden Tierwelt porträtiert. „Meins! Meins! Meins!“ lautet dort die einzige Vokabel der Möwensprache, eine Anspielung auf die Gier, mit der Möwen oft um Futter zanken.

Als Projektionsfläche für die Charaktereigenschaften des Menschen scheint sich die Möwe jedenfalls hervorragend zu eignen, vielleicht weil sich Mensch und Möwe letztlich gar nicht unähnlich sind: Ihren evolutionären Erfolg verdanken beide einem intelligenten und anpassungsfähigen Wesen, mit dem sie das Beste aus den ihnen gegebenen Lebensbedingungen machen.

Dabei hilft den Vögeln ihr scheinbar stählerner Verdauungstrakt, der auf hastig am Stück verschlungene Nahrung spezialisiert ist und den Allesfressern eine schier unerschöpfliche Nahrungspalette aus allem, was sich an Küste und Meer finden lässt, erschließt. In freier Wildbahn leben Möwen von allerlei Kleingetier, Muscheln und Aas, aber auch von Eiern und Jungvögeln, die sie aus den Nestern von Artgenossen und anderen Seevögeln rauben. Selbst von Angriffen großer Möwen auf kleinere Enten, die sie nach längerer Hetzjagd zur Strecke bringen, berichtet die Literatur. Das tägliche Brot der Möwen ist jedoch Fisch. Da sie sich als vergleichsweise schlechte Taucher schwer tun, selbst Fische zu fangen, bedienen sie sich auch gerne aus dem über Bord geworfenen Beifang von Fischtrawlern – allein der Beifang der Nordseefischerei, haben Forscher der Vogelwarte Helgoland hochgerechnet, ernährt rund eine viertel Million Vögel. Für die leichte Mahlzeit folgen Möwen den Schiffen sogar auf hohe See, obwohl sie sich sonst kaum mehr als 30 bis 40 Kilometer von festem Land entfernen.

Neben Kuttern und Trawlern gibt es aber noch einen anderen Weg, an Fisch zu kommen, ohne sich selbst das Gefieder nass zu machen. Kleptoparasitismus nennen Biologen diese Art des Nahrungserwerbs, der sich neben manchen Großmöwenarten besonders die nahe verwand- ten Raubmöwen verschrieben haben: Sie bedrängen von der Jagd heimkehrende Vögel wie Dreizehenmöwen, Papageitaucher oder Seeschwalben mit gezielten Angriffen, bis diese entnervt ihren Fang fallen lassen. Noch in der Luft schnappt sich dann die Angreiferin in rasanten Sturzflugmanövern die Beute ihres Opfers.

Dieser Mundraub funktioniert besonders effektiv im Frühsommer, wenn die Seevögel ihre Jungen mit Fisch versorgen und diesen deshalb offen sichtbar im Schnabel transportieren müssen. Auch die Möwen versorgen mit dem Diebesgut ihren Nachwuchs, der nach vierwöchiger Brutzeit aus den zwei bis drei bräunlich gesprenkelten Eiern schlüpft, die ein Möwenweibchen je Saison legt. Die ebenfalls braun gesprenkelten Küken können sofort laufen, bei ausgesprochenen Klippenbrütern wie der Dreizehenmöwe machen sie von dieser Fähigkeit in den nächsten Wochen allerdings keinen Gebrauch – zu groß ist die Gefahr, von dem meist kleinen Felsvorsprung in die Tiefe zu stürzen.

Allen Möwen gemein ist ihr geselliges Auftreten in großen Brutkolonien. In der Masse finden die Vögel Schutz vor Feinden, doch mit dem sozialen Zusammenhalt, wie er etwa in einer Schimpansensippe herrscht, sind die Verhältnisse in einer Möwenkolonie nicht zu vergleichen.

Die wahre Zelle der Möwengesellschaft ist das Brutpaar, das seinen Nistplatz energisch gegen zu nahe rückende Artgenossen verteidigt, die bei sich bietender Gelegenheit nicht zögern würden, Eier oder Junge zu rauben. Bei vielen Arten finden sich die Partner schon als Jungtiere zu einer meist lebenslangen Ehe zusammen. Aufwendige Begrüßungszeremonien dienen der langfristigen Paarbindung, vor allem aber auch der Erkennung des Partners, in dicht gedrängten Brutkolonien keine selbstverständliche Leistung. So anrührend die Treue der Möwen sein mag, sie dient doch letztlich dem höchsten Ziel der Evolution, möglichst effizient Nachwuchs in die Welt zu setzen. Studien haben gezeigt, dass der jährliche Bruterfolg bei über Jahre währenden Möwenpartnerschaften höher ist als der von Frischvermählten. In dem langen Möwenleben – Silbermöwen können über mehr als Jahre alt werden – kann dieser Unterschied durchaus einige Nachkommen mehr oder weniger ausmachen.

Möwen bevölkern annähernd alle temperierten Küstenregionen der Erde, doch über die genaue Anzahl verschiedener Arten herrscht Uneinigkeit unter Ornithologen. Die meisten Lehrbücher gehen von etwa 55 Spezies aus, doch die Systematik der Möwen ist alles andere als einfach. So leben rund um den nördlichen Polarkreis über 20 Arten aus der Verwandtschaft der Silbermöwe Larus argentatus, die sich lediglich durch Details in der Färbung von Gefieder, Beinen oder Augen und in ihren Lautäußerungen unterscheiden.

Nicht nur Laien, auch die Vögel selbst scheinen Probleme beim Erkennen dieser Unterscheidungsmerkmale zu haben, denn an den Grenzen ihrer Verbreitungsgebiete finden sich immer wieder gemischte Paare, die erfolgreich Nachwuchs aufziehen.

Die gängige Theorie für die Entstehung dieses so genannten Artenkreises der Silbermöwe geht von einer Ursprungspopulation in der Nähe des Aralsees aus, die sich von dort aus erst seit Beginn des Holozäns nach Ost und West ausbreitete und dabei durch genetische Drift immer neue Formen hervorbrachte. Da die Erde nun einmal rund ist, mussten sich Ost- und Westmöwen eines Tages wieder treffen. Diesen Ringschluss schafften die aus Asien kommende Heringsmöwe und die anscheinend nach dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 100000 Jahren aus Nordamerika übersetzende Silbermöwe. In Westeuropa kommen beide Arten heute gemeinsam vor und konkurrieren um Futter und Nistplätze. Allerdings scheinen auch sie sich gelegentlich zu kreuzen und dabei gesunden und vor allem selbst wiederum fruchtbaren Nachwuchs hervorzubringen – was der Definition einer biologischen Art eigentlich zuwiderläuft.

Biologen streiten daher seit Jahrzehnten, ob Silber- und Heringsmöwe und ihre rund 20 Übergangsformen nicht eher einige wenige oder gar nur eine einzige Art darstellen. Das Kuddelmuddel im Artenkreis der Silbermöwe bestätigt jedenfalls die Kritiker der seit rund 270 Jahren gebräuchlichen biologischen Systematik. Sie sehen das auf den schwedischen Naturforscher Carl von Linné zurückgehende System von Arten, Gattungen und Familien als Versuch, das große, evolutionär gewachsene Kontinuum der Lebensformen in ein menschliches Schubladensystem zu pressen.

Abgesehen von der Silbermöwe und ihrer zirkumpolaren Sippe unterscheiden sich die verschiedenen Möwenarten in der Wahl ihrer ökologischen Nische allerdings mehr, als ihr ähnliches Äußeres vermuten lässt. So scheut die im hohen Norden lebende Elfenbeinmöwe das Wasser, jagt die Gabelschwanzmöwe der Galapagosinseln des Nachts oder brütet die südamerikanische Graumöwe bis zu 100 Kilometer im Landesinneren, in den Steinwüsten des Küstenhinterlands von Peru und Chile.

Als besonders lohnend hat sich jedoch die Anpassungsleistung erwiesen, die einige Möwenarten erst im 20. Jahrhundert vollbrachten: die Annäherung an den Menschen. Zuerst waren es die seit je auch an Binnengewässern lebenden Lachmöwen, die sich mehr und mehr an menschliche Siedlungen heranwagten. Die Pioniere waren noch vornehmlich auf leckere Würmer und saftige Insektenlarven aus, die beim Pflügen der Felder zum Vorschein kommen. Doch nach und nach entdeckten sie auch die Innenstädte. Die erste belegte Sichtung einer Lachmöwe im Zentrum von Berlin etwa datiert auf das Jahr 1870.

Später zogen auch erste Silbermöwen in küstennahe Städte, zu regelrechten Invasionen kam es aber erst mit der Entwicklung der modernen Wegwerfgesellschaft. Denn die stets hungrigen Möwen fanden in den Siedlungsgebieten des Menschen ihr Schlaraffenland. Die Stadtmöwen von heute lassen sich auf Mülldeponien die Abfälle der Konsumgesellschaft schmecken, vom verschimmelten Schinken bis zur trockenen Brotkruste, auch Reste von Hamburger und Pommes frites werden geschickt aus Mülleimern gefischt und problemlos verdaut.

Angesichts dieses stets reichlich gedeckten Tisches verlagern seit den sechziger Jahren immer mehr Silber- und Heringsmöwen ihren Lebensmittelpunkt in die Stadt. Dort sind die lauten und alles mit weißlich-grünem Guano überziehenden Tiere allerdings nicht gern gesehen, vor allem dann, wenn sie ihre Nester auf den Dächern der Häuser bauen. Denn die verbotene Zone um ein Möwennest, in der die Tiere keine Eindringlinge dulden, ist dreidimensional und erstreckt sich oft auch auf den darunter liegenden Gehweg – mit unangenehmen Konsequenzen für Passanten, die den warnenden Laut „Gagagagagaag“ meist nicht korrekt zu deuten vermögen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 53. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 53

No. 53Dezember 2005 / Januar 2006

Von Georg Rüschemeyer und Henry Horenstein

Der Leipziger Wissenschaftsautor Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, wurde erst kürzlich in Irland Zeuge einer Möwenattacke: Sein Schwager geriet unter Guanobeschuss und erwischte einen Volltreffer.

Der Kunstfotograf Henry Horenstein, 57 Jahre alt, lebt in Boston und unterrichtet an der Rhode Island School of Design. Seine Möwenbilder entstanden am Revere Beach nördlich von Boston. Nur gegen ein „Handgeld“ ließen ihn die Vögel so nah heran: frittierte Muscheln und Pommes frites – „bei schlichtem Weißbrot waren sie deutlich weniger kooperativ“.

Mehr Informationen
Vita Der Leipziger Wissenschaftsautor Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, wurde erst kürzlich in Irland Zeuge einer Möwenattacke: Sein Schwager geriet unter Guanobeschuss und erwischte einen Volltreffer.

Der Kunstfotograf Henry Horenstein, 57 Jahre alt, lebt in Boston und unterrichtet an der Rhode Island School of Design. Seine Möwenbilder entstanden am Revere Beach nördlich von Boston. Nur gegen ein „Handgeld“ ließen ihn die Vögel so nah heran: frittierte Muscheln und Pommes frites – „bei schlichtem Weißbrot waren sie deutlich weniger kooperativ“.
Person Von Georg Rüschemeyer und Henry Horenstein
Vita Der Leipziger Wissenschaftsautor Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, wurde erst kürzlich in Irland Zeuge einer Möwenattacke: Sein Schwager geriet unter Guanobeschuss und erwischte einen Volltreffer.

Der Kunstfotograf Henry Horenstein, 57 Jahre alt, lebt in Boston und unterrichtet an der Rhode Island School of Design. Seine Möwenbilder entstanden am Revere Beach nördlich von Boston. Nur gegen ein „Handgeld“ ließen ihn die Vögel so nah heran: frittierte Muscheln und Pommes frites – „bei schlichtem Weißbrot waren sie deutlich weniger kooperativ“.
Person Von Georg Rüschemeyer und Henry Horenstein