Mont-Saint-Michel

In Frankreich wird die Felseninsel vor der Küste der Normandie verehrt als Zeichen unantastbaren Franzosentums. Wütende Stürme von Wind und Geschichte hat sie überstanden. Nur der Sand in der Bucht von Couesnon macht ihr zu schaffen.

Auf beiden Seiten des Ärmelkanals gibt es je eine küstennahe Granitinsel, die durch einen Straßendamm mit dem Festland verbunden ist. Sie verhalten sich seltsam spiegelbildlich zueinander, historisch wie physisch betrachtet. Der Mont-Saint-Michel liegt ungefähr auf der Grenze zwischen Normandie und Bretagne, der St Michael’s Mount vor der Südküste Cornwalls. Beide wurzeln in der vorchristlichen keltischen Kultur und wurden von Einsiedlern bewohnt, bevor sie zu Beginn der Christianisierung Europas zu Orten der Verehrung des Erzengels Michael wurden. Beide waren und sind bis heute Pilgerstätten.

Die französische ist die grandiosere und berühmtere der beiden. Bei Ebbe scheint sie wie die Fata Morgana einer Himmelszitadelle über einem Watt voll glänzenden Schlicks zu schweben. Bevor im 19. Jahrhundert die Felder auf dem Festland trockengelegt wurden und ein Straßendamm gebaut wurde, war der Mont-Saint-Michel eine echte Insel. Sie war öde und wild und galt bereits vor dem Christentum als heiliger Ort. Anno 708 ließ der heilige Aubert, der Bischof von Avranches, nach einer Vision des Erzengels Michael, der damals in Westeuropa glühend verehrt wurde, eine erste Kapelle auf diesem Felsen errichten. Schon bald kamen Pilger aus ganz Frankreich, Italien, England und Irland. Zweieinhalb Jahrhunderte später war aus der Kapelle ein Benediktinerkloster geworden, und die Mönche nahmen aufwendige Bauarbeiten in Angriff. Vielleicht wollte man den Felsen insgeheim damals schon mit einer großen Kirche krönen, doch sahen sich die Mönche vor ein gravierendes technisches Problem gestellt: Für ein solches Projekt war ein großer, flacher Baugrund vonnöten, der Fels des Mont-Saint-Michel jedoch lief nach oben beinahe spitz zu.

Im Lauf der nächsten Jahrhunderte wurde dieses Problem durch körperliche Arbeit von einem Ausmaß gelöst, wie wir es uns heute kaum noch vorstellen können. Sämtliche Materialien, einschließlich Granitblöcken, mussten mit Booten vom Festland hergebracht werden. Mönche und Pilger, die zu Fuß über das Watt kamen, setzten dabei ihr Leben aufs Spiel, denn wenn die Flut kam, tat sie dies rasend schnell. Außerdem gab es Treibsand. Doch solche Gefahren waren dem Ansehen des Mont-Saint-Michel nur förderlich. Die Pilger brachten Gaben, die Mönche boten ihnen eine Unterkunft, und so wuchsen die Bauten auf der Insel stetig. Eine Kirche im romanischen Stil ging in einer zweiten auf, bis beide zwischen dem elften und dem 13. Jahrhundert zum Fundament der prächtigen gotischen Kirche wurden, die seither den Mont-Saint-Michel krönt. Die Krypten und Säulen, die deren gewaltiges Längs- und Querschiff tragen, sind ein Triumph der Konstruktionstechnik. Die Kirche ist ganz eigentlich verwachsen mit der Abtei, da sie in einer Ansammlung von Klostergebäuden wurzelt. Deren nördlichster, sich über drei Terrassen hochziehender Teil wurde in Europa rasch bekannt. Die großartige Gotik insbesondere des Refektoriums mit seiner Kolonnade und des Rittersaals trug ihm den Namen La Merveille, das Wunderwerk, ein.

Es muss den Pilgern wahrlich wie ein Wunder vorgekommen sein, dass ein Komplex von solcher Großartigkeit und Handwerkskunst auf einem Felsbrocken entstehen konnte, der von launenhaften Gezeiten umspült wurde und dessen einzige Verbindung zu den salzigen Sümpfen des Festlands ein Stück Meeresboden war, das ab und zu ans Tageslicht trat. Vom Ufer aus gesehen muss der Mont über dem trügerisch ruhigen Wasser wie eine Vision des Lebens nach dem Tode geschwebt haben, ein mystisches Ziel, das die Gerechten einst nach der Überwindung der irdischen Drangsal erreichen würden. Die vergoldete Bronzefigur des Erzengels auf der Spitze des Kirchturms, die 155,5 Meter über dem Ärmelkanal in der Sonne blitzte, muss den Gläubigen erschienen sein wie ein Aufruf, den Weg zum Himmel zu beschreiten.

Bald kamen Zinnen und Verteidigungsanlagen hinzu, und obschon der Mont-Saint-Michel im Hundertjährigen Krieg wiederholt belagert wurde, blieb er der einzige Teil der Region, den die Engländer nie zu besetzen vermochten. Er genießt nicht zuletzt deswegen ein solch hohes Ansehen in Frankreich, weil man ihn als Ausdruck unantastbaren Franzosentums empfindet. Im Lauf der Jahrhunderte wurde er dennoch Opfer von allerlei politischen und administrativen Kämpfen. Die Zahl der Pilger nahm nach ihrem Höhepunkt im Mittelalter allmählich ab, bis 1790 auch der letzte Benediktiner gegangen war, und nach der Französischen Revolution wurde die Abtei säkularisiert: Man benutzte sie als Gefängnis für politische Gegner. So hart die Haftbedingungen dort auch gewesen sein mögen, sie dürften immer noch um einiges harmloser gewesen sein als auf der Teufelsinsel, der berüchtigtsten unter Frankreichs Gefängnisinseln. Die letzten Gefangenen verließen die Insel 1863, worauf mehrere Jahrzehnte lang dringend nötige Reparaturarbeiten ausgeführt wurden, um dem Status dieses mittelalterlichen Prunkstücks als kulturelles Monument wieder gerecht zu werden.


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mare No. 84

No. 84Februar / März 2011

Von James Hamilton-Paterson und Michael Kenna

James Hamilton-Paterson, geboren 1941, Schriftsteller mit ausgeprägter Neigung zum Meer, fühlt sich seit Langem von der kulturellen und psychologischen Bedeutsamkeit von Inseln aller Art angezogen. Er lebt in Österreich. Im vergangenen Jahr erschien im mareverlag sein viel gelobter Prosaband „Vom Meer“.

Der Brite Michael Kenna, Jahrgang 1953, gehört zu den besten Landschaftsfotografen seiner Generation. Der Ritter des französischen Ordre des Arts et des Lettres lebt an der US-Westküste. Er ist von Bernheimer Fine Art Photography in München vertreten, wo seine Mont-Saint-Michel-Bilder auch ausgestellt waren.

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Vita James Hamilton-Paterson, geboren 1941, Schriftsteller mit ausgeprägter Neigung zum Meer, fühlt sich seit Langem von der kulturellen und psychologischen Bedeutsamkeit von Inseln aller Art angezogen. Er lebt in Österreich. Im vergangenen Jahr erschien im mareverlag sein viel gelobter Prosaband „Vom Meer“.

Der Brite Michael Kenna, Jahrgang 1953, gehört zu den besten Landschaftsfotografen seiner Generation. Der Ritter des französischen Ordre des Arts et des Lettres lebt an der US-Westküste. Er ist von Bernheimer Fine Art Photography in München vertreten, wo seine Mont-Saint-Michel-Bilder auch ausgestellt waren.
Person Von James Hamilton-Paterson und Michael Kenna
Vita James Hamilton-Paterson, geboren 1941, Schriftsteller mit ausgeprägter Neigung zum Meer, fühlt sich seit Langem von der kulturellen und psychologischen Bedeutsamkeit von Inseln aller Art angezogen. Er lebt in Österreich. Im vergangenen Jahr erschien im mareverlag sein viel gelobter Prosaband „Vom Meer“.

Der Brite Michael Kenna, Jahrgang 1953, gehört zu den besten Landschaftsfotografen seiner Generation. Der Ritter des französischen Ordre des Arts et des Lettres lebt an der US-Westküste. Er ist von Bernheimer Fine Art Photography in München vertreten, wo seine Mont-Saint-Michel-Bilder auch ausgestellt waren.
Person Von James Hamilton-Paterson und Michael Kenna