Modern Jazz mit Muschelmagie

Der New Yorker Posaunist Steve Turre gilt als weltbester Virtuose unter den Muschelbläsern

San Francisco, 1966. Wie eine verschworene Gemeinde verfolgt das Publikum des Clubs „Jazz Workshop“, was auf der Bühne geschieht. Der blinde Multi-Instrumentalist Rahsaan Roland Kirk spielt eine simple, von Folk und Gospel inspirierte Melodie – auf drei Saxophonen gleichzeitig. Kirk ist berühmt-berüchtigt dafür, dass er Nasenflöten verwendet, Sirenen und andere Jazz-untypische Klangerzeuger. Aber Kirk geht es nicht um Gags und oberflächliche Effekte. Seiner spirituellen Musik wird heilende Wirkung nachgesagt.

„Prepare Thyself To Deal With A Miracle“ lautet der Titel einer seiner Platten. Ein solches Wunder gelingt Roland Kirks Band „Vibration Society“, als er bei der Zugabe aus der bunten Vielzahl seiner Instrumente eine Muschel fischt und auf ihr den letzten Ton spielt: fast zehn Minuten circular breathing, durch die Nase einatmend, während die Backen pumpend für einen kontinuierlichen Luftstrom sorgen.

Unter den Zuschauern, deren Beifall mit Verzögerung, dann aber umso heftiger einsetzt, befindet sich ein Teenager, den der urgewaltige und doch friedliche Klang der Muschel nicht mehr loslassen wird. Steve Turre schleicht sich in die Künstlergarderobe, um Kirk zu erzählen, wie sehr er ihn bewundert, und um die geheimnisvolle Muschel aus der Nähe zu sehen.

Mythenwelt, Zeit der Großen Flut. „Da war alles Meer; und dem Meere fehlten die Ufer“: In seinem maßlosen Zorn will Jupiter das Menschengeschlecht durch Fluten und Güsse vernichten. Schon tummeln im Wald sich Delfine, aber bei Delphi ragt noch der Gipfel des Parnass aus den endlosen Wogen. Hier landet mit seinem Kahn der gottesfürchtige Deukalion samt Ehefrau. Nur diese beiden Schuldlosen wird der mächtigste aller Götter verschonen.

Doch dann soll auf Jupiters Befehl Muschelklang im letzten Moment die Menschheit retten. Der Meeresgott Neptun legt den Dreizack nieder und ruft nach seinem fischschwänzigen Sohn. Der tut bereitwillig, was Ovid in seinen „Metamorphosen“ eindringlich schildert: „Triton ergreift das hohle, gedrehte Haus der Muschel, das, von der untersten Windung sich weitend, wächst ... Jetzt auch, da es geführt an des Gottes Mund, den vom nassen Barte betauten, und hallt, zum befohlenen Rückzug geblasen, ward es von allen Wogen des Festlands, des Meeres gehört.“ Und die Wassermassen gehorchen dem mächtigen Signal: „Siehe, es fallen die Flüsse! Man sieht die Hügel sich heben; schon zeigt Ufer das Meer.“

Contra Costa, 1957. Endlich ist Steve Turre in der 4. Klasse, in der die Schüler der Lafayette Elementary School ein Instrument lernen dürfen. Als der Lehrer den Neunjährigen fragt, welches er denn spielen wolle, fällt dessen Blick auf ein Poster an der Wand. „Posaune!“ Zufall, und doch eine sein Leben bestimmende Entscheidung. Steve stammt aus musikalischer Familie. Seine Mutter ist mexikanischer Abstammung. Sie tritt als Flamenco-Tänzerin in Hotels auf, swingt gelegentlich am Klavier. Auch sein Vater ist Jazzfan. Die beiden haben sich kennen gelernt, als er sie bei einem Count-Basie-Konzert zum Tanzen aufforderte.

Schon mit zwölf ist für Steve klar, dass er Musiker werden will. Die Eltern unterstützen ihn nach Kräften. Wenn Duke Ellington ins nahe gelegene San Francisco kommt, besorgt der Vater Karten. Später besucht Steve Konzerte der Beatles, von James Brown und Jimi Hendrix. Er entdeckt den E-Bass für sich, spielt mit seiner Band als Vorprogramm für Jefferson Airplane oder Grateful Dead. Aber seine wahre Liebe gehört dem Jazz, der Posaune. Und die Muschel? Kennt Steve als Instrument vorerst nur aus einem Hollywoodfilm: Südseekitsch hoch drei!

Polynesien, achtziger Jahre. Pu kani, pu moana, putona, puutaatara: Selbst gestandene Musik-Ethnologen geraten ins Stöhnen angesichts all der Namen mit klangnachahmender pu-Silbe, unter denen die Muschel im pazifischen Raum zu einem weit verbreiteten Instrument geworden ist. Über Jahrhunderte hinweg war ihr Gebrauch mit Rang und Religion verknüpft. Niemand griff unbedacht zur „Muscheltrompete“. Ihr auf geheimnisvolle Weise an die menschliche Stimme erinnernder Klang symbolisierte außer-ordentliche Ereignisse: das Eintreffen des Königs, Krieg oder Frieden, Ernte- und Initiationsrituale. Obwohl auch im 20. Jahrhundert noch manche als heilig geltende Muschel nur Göttern oder Häuptlingen zu Ehren geblasen wird, zeichnet sich eine unaufhaltsame Profanisierung ab. Auf Samoa soll heute noch muscheltutend die Polizeistunde kundgetan werden, auf Fidschi signalisiert shell sound, dass frischer Fisch zu haben ist, oder ein Bäcker lässt damit schon mal wissen, dass er das Brot aus dem Ofen geholt hat.

Hawaii, 1970. Conch shells for sale. Carmen Turre greift zu, im Auftrag ihres Sohnes: „Vielleicht siehst Du ja eine Muschel, bei der schon die Spitze abgeschnitten ist, damit man drauf spielen kann.“ Sie wählt ein als ready to blow angebotenes Prachtstück, wie es auf Oahu gerne als Souvenir gekauft wird. Aber als Steve daheim in Kalifornien versucht, auf der charonia tritonis ähnlich intensive Töne zu erzeugen wie sein Idol Rahsaan, in dessen Band er mittlerweile spielt, wann immer die „Vibration Society“ in San Francisco auftaucht, tut ihm nach kurzer Zeit der Mund weh. Steves Vater weiß als Arzt nicht nur, welche Salbe aufgerissene Lippen heilt. Er kennt auch einen Zahnarzt, in dessen Praxis sich das Problem der rauhen Kante lösen lässt: erst rundschleifen, dann mit Acryl einen ans Mundstück der Posaune erinnernden Rand aufbauen. Schon bald kann Steve sein erstes Tritons-Horn bei Konzerten zum Klingen bringen – auf einen Ton beschränkt, wie die shell music traditioneller Kulturen.

Der Visionär Rahsaan Roland Kirk hatte einst geträumt, mehrere Instrumente gleichzeitig zu spielen. Ein ähnliches Erlebnis hilft Steve auf die Sprünge. Nach bedingt erfolgreichen Versuchen, unterschiedliche Töne durch Überblasen oder immer neue Positionen seiner Hand an und in der Muschelöffnung zu erzeugen, schläft er erschöpft in seinem Apartement ein und versinkt in einen Traum, der seine Schwierigkeiten zu verhöhnen scheint. Steve auf der Bühne, ein virtuoses Muschelsolo spielend. Nach dem Aufwachen wird ihm schlagartig klar: Kein Hohn, es gibt eine Lösung! Kleine Muscheln erzeugen höhere Töne als große. Was er braucht, ist eine ganze Sammlung.


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mare No. 22

No. 22Oktober / November 2000

Von Klaus von Seckendorff und Bastienne Schmidt

Klaus von Seckendorff, Jahrgang 1952, lebt als freier Musik- und Reisejournalist in Schöngeising bei München.

Bastienne Schmidt, Jahrgang 1961, lebt als freie Fotografin in New York und wird von der Fotoagentur Lookat vertreten. Für mare fotografierte sie die Hafenhuren im brasilianischen São Francisco do Sul (Heft 10)

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Vita Klaus von Seckendorff, Jahrgang 1952, lebt als freier Musik- und Reisejournalist in Schöngeising bei München.

Bastienne Schmidt, Jahrgang 1961, lebt als freie Fotografin in New York und wird von der Fotoagentur Lookat vertreten. Für mare fotografierte sie die Hafenhuren im brasilianischen São Francisco do Sul (Heft 10)
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Vita Klaus von Seckendorff, Jahrgang 1952, lebt als freier Musik- und Reisejournalist in Schöngeising bei München.

Bastienne Schmidt, Jahrgang 1961, lebt als freie Fotografin in New York und wird von der Fotoagentur Lookat vertreten. Für mare fotografierte sie die Hafenhuren im brasilianischen São Francisco do Sul (Heft 10)
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