„Moby-Dick“ decoded

Die Rote-Armee-Fraktion gab sich Anfang der 1970er Jahre Decknamen, die aus „Moby-Dick“ stammten. Versuch einer Erklärung

Moby-Dick“ ist nicht nur die poetische Versuchsanordnung der Vernichtung eines verhassten Gegners, deren Aktualität so verstörend wie bestechend ist. Melvilles Opus magnum liefert auch die Grammatik für die Ziele der RAF wie für den Terror der islamistischen Al Kaida. Es ist eine Blaupause für politische Ideologie, die philosophische Reflexion über den gerechten Krieg, die romaneske Parabel auf den Urzustand des Kampfes. Es spricht für die Kunst des Autors wie für die Assoziationsmächtigkeit des Werkes, dass zwei der sich subtil durch das Buch ziehenden Leitmotive für die Identitäten von Terror- und Guerillatruppen gestanzt zu sein scheinen: Rache und Revolution. Beide Begriffe setzen den archaischen Instinkt des Kampfes voraus, wie ihn der umstrittene deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt einst gefasst hat: die Unterscheidung von Freund und Feind, die in hehrem Ernst auf eine existenzielle Entscheidung hinausläuft.

Die publizistische Urheberschaft der Analogie zwischen den führenden Figuren des „Moby-Dick“ und denen der RAF steht dem langjährigen „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust zu, der – wenn auch kein Geschichtswissenschaftler – zweifelsohne einer der besten Kenner des Baader-Meinhof-Komplexes ist. Jahrzehnte noch nach seiner Entdeckung der kurios anmutenden Beziehung ist Aust begeistert, wie die Beschreibung der „Pequod“-Crew auch eine der ersten RAF-Crew ist. Im Gespräch fallen die Worte „faszinierend“, „unglaublich“ und „sensationell“ gleich mehrere Mal, und Aust, in den Lederfauteuil seines Büros am Hamburger Fischmarkt gefläzt, liest minutenlang Passagen aus „Moby-Dick“ vor, mit wachsender Faszination und hier und da begleitet von einem in die Höhe gestreckten Zeigefinger.

Es gibt Szenen und Charakterskizzen in „Moby-Dick“, die Gudrun Ensslin ins Auge gesprungen sein müssen, als sie 1972 Decknamen für die führenden RAF-Mitglieder suchte, zur Täuschung der Postüberwacher und um jenseits der Gefängnismauern die Truppen zusammenzuhalten und sie zu immer grausigeren Taten gegen den gemeinsamen Feind zu motivieren. Fast alle Pseudonyme entnahm Ensslin dem Roman vom unstillbaren Hass eines Besessenen auf den weißen Wal. Über das Wortspiel hinaus gelang ihr etwas Faszinierendes: Mit „Moby-Dick“ im geistigen Gepäck lässt sich, bei gezähmter Fantasie, auch die Lage der Nation in Deutschland Anfang der 1970er Jahre lesen.

Die schwäbische Pastorentochter Ensslin – Aust zufolge der Kopf der RAF – war eine kluge und gebildete Psychologin, dazu Studentin der Anglistik und Germanistik, der man unterstellen darf, die Allegorie des Wales gekannt zu haben. Der Wal ist der Leviathan, und der Leviathan ist seit Thomas Hobbes’ gleichnamiger Abhandlung von 1651 das Sinnbild des Staates. Melvilles Roman erschien exakt 200 Jahre nach Hobbes’ Schrift. Ahab und die RAFler, beide bekämpfen diesen Leviathan: Der eine jagt den Wal, die anderen den Staat. Während „Moby-Dick“ die Geschichte der Vernichtung eines Tieres ist, war die Geschichte der RAF eine der Zerstörung eines verhassten Mechanismus. Beide setzen die angebliche Bedrohung der Gemeinschaft durch eine größere Gewalt voraus, die den revolutionären Kampf gegen das Ungetüm zu legitimieren scheint.

Melville zitierend, schreibt Ensslin in einem Brief an Ulrike Meinhof: „Und sollte von Geburt an oder durch besondere Umstände hervorgerufen tief auf dem Grunde seiner Natur etwas Krankhaftes sein eigensinnig grillenhaftes Wesen treiben, so tut das seinem dramatischen Charakter nicht den geringsten Eintrag. Alle tragische Größe beruht auf einem Bruch in der gesunden Natur, des kannst du gewiss sein.“ Sofort ist klar, wer gemeint ist: Kapitän Ahab. Und ebenso war Ensslin klar, auf wen dies noch zu passen schien: Andreas Baader. Dieses charismatische Irrlicht, sagt Aust, sei ein „eitler, aggressiver und, wie viele sagen, äußerst brutaler Typ“ gewesen. Ohne seinen „dramatischen Charakter“ allzu sehr auspsychologisieren zu wollen, bleibt festzustellen, dass Baader als verhätscheltes Kind bei Mutter, Großmutter und Tante in der bayerischen Provinz aufwuchs, ohne männliche Bezugsperson, die ihm, wie Aust meint, Grenzen hätte setzen können. „Deswegen hat er sich später in der weiblichen Atmosphäre der RAF so wohlgefühlt; die haben ihn ja alle betüddelt.“ Die RAF-Frauen nannten das hübsche Muttersöhnchen „Baby Baader“. Aber Baby Baader war jener Typ Agitator, der zur Revolution anstiftet und über Leichen geht, ohne sich zu fragen, ob der Umsturz der Verhältnisse überhaupt zum Besseren führt.

Was die Kapitäne Ahab und Baader eint, sind Rachelust und Wahn. Ahab hat bereits ein Schiff und ein Bein an den Wal verloren, und von vornherein ist abgezeichnet, dass der Massenverführer in den Wahnsinn abgleiten wird. Er würde, lässt Melville den Kapitän sagen, sogar die Sonne schlagen, wenn sie ihn beleidigt.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 82. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 82

No. 82Oktober / November 2010

Von Christian Schüle und Rockwell Kent

Der Hamburger Autor Christian Schüle, Jahrgang 1970, sieht in Rache und Revolution jene beiden Leitmotive, die exakt auf die Entdeckung zuzutreffen scheinen, die der frühere Spiegel-Chef Aust in seinem Standardwerk Der Baader-Meinhof-Komplex auf wenigen Seiten skizziert hat: die Analogie zwischen Melvilles Epos und der RAF. Nach ihrem hochsommerlich entspannten Gespräch über psychologische und politische Verwandtschaftlichkeit der jeweiligen Protagonisten verabschiedete sich Aust von Schüle, um zu seinem Boot nebenan im Hafen zu gelangen. Es heiße „Queequeg“, ließ Aust wissen, ehe er die Tür schloss. Eine feinsinnige Volte, denn Queequeg ist bekanntlich der edle, wilde Harpunier in „Moby-Dick“ und zugleich der Deckname des RAF-Mitglieds Gerhard Müller.

Mehr Informationen
Vita Der Hamburger Autor Christian Schüle, Jahrgang 1970, sieht in Rache und Revolution jene beiden Leitmotive, die exakt auf die Entdeckung zuzutreffen scheinen, die der frühere Spiegel-Chef Aust in seinem Standardwerk Der Baader-Meinhof-Komplex auf wenigen Seiten skizziert hat: die Analogie zwischen Melvilles Epos und der RAF. Nach ihrem hochsommerlich entspannten Gespräch über psychologische und politische Verwandtschaftlichkeit der jeweiligen Protagonisten verabschiedete sich Aust von Schüle, um zu seinem Boot nebenan im Hafen zu gelangen. Es heiße „Queequeg“, ließ Aust wissen, ehe er die Tür schloss. Eine feinsinnige Volte, denn Queequeg ist bekanntlich der edle, wilde Harpunier in „Moby-Dick“ und zugleich der Deckname des RAF-Mitglieds Gerhard Müller.
Person Von Christian Schüle und Rockwell Kent
Vita Der Hamburger Autor Christian Schüle, Jahrgang 1970, sieht in Rache und Revolution jene beiden Leitmotive, die exakt auf die Entdeckung zuzutreffen scheinen, die der frühere Spiegel-Chef Aust in seinem Standardwerk Der Baader-Meinhof-Komplex auf wenigen Seiten skizziert hat: die Analogie zwischen Melvilles Epos und der RAF. Nach ihrem hochsommerlich entspannten Gespräch über psychologische und politische Verwandtschaftlichkeit der jeweiligen Protagonisten verabschiedete sich Aust von Schüle, um zu seinem Boot nebenan im Hafen zu gelangen. Es heiße „Queequeg“, ließ Aust wissen, ehe er die Tür schloss. Eine feinsinnige Volte, denn Queequeg ist bekanntlich der edle, wilde Harpunier in „Moby-Dick“ und zugleich der Deckname des RAF-Mitglieds Gerhard Müller.
Person Von Christian Schüle und Rockwell Kent