Mittelmaß und Größenwahn

Das Meer ist nur ein Teich, die Städte sind aufgeräumt-bunt wie Legoland. Alles ist so nervtötend beschaulich

„Der Welt größter Fjord“ wird sie auch genannt, die Ostsee. Die Norweger, mit dem Fjord verheiratet, würden sich wohl indigniert abwenden, sollten sie mit der Ostsee in Verbindung gebracht werden. Zu Recht. Denn wer möchte schon am langweiligsten Meer der Welt liegen?

Ob sie überhaupt ein Meer ist, darüber ließe sich streiten, denn sie ist ein zu groß geratener Brackwassertümpel. Sie ist so klein, dass sie nicht einmal internationale Gewässer kennt. Und das bisschen Salz, das in ihr treibt, wird aus dem Atlantik zugeführt. Dem Atlantik. Einem richtigen Meer. Der hat allerdings auch mehr als die beschämende mittlere Wassertiefe von 52 Metern aufzuweisen. Tausende Meter geht es hinunter, da gibt es Gräben und ganze Gebirgslandschaften. Und drum haben Atlantikanwohner auch keine Minderwertigkeitskomplexe. Mittelmeerbewohner übrigens auch nicht. Das liegt aber nicht nur an den Tiefen des Wassers, sondern am Wetter. Dafür leiden diese an einem anderen Problem, der Selbstgefälligkeit. Anders sieht es bei den Ostseelern aus. Die wissen nämlich im tiefsten Innern um ihr eigenes Mittelmaß. Ihre Übersprungshandlung: Sie genießen es.

Natürlich würden sie es niemals Mittelmaß nennen. Sondern Ausgewogenheit. Einklang. Harmonie mit Natur und Kultur. Hans Henny Jahnn brauchte diese Ruhe „fern der prächtigen Stätten der Zivilisation“, um seinen „Fluss ohne Ufer“ zu schreiben. Das ist sicherlich das Beste, was wir Bornholm zu verdanken haben. Aber wer weiß diese Eintönigkeit schon so zu nutzen und schreibt auch noch begnadet wie Jahnn?

Rund um die Ostsee wird eine Beschaulichkeit kultiviert, die nachgerade den Nerv tötet. Da sind diese roten und gelben Häuslein, die sich an der schwedischen Küste entlang würfeln. Die kunterbunten Dörfer, mit sauberen Kindern hinter blitzblanken Scheiben, zur Dekoration hindrapiert gewissermaßen. Die deutsche Küste? Genauso schlimm. Dort haben sie außer der eher banalen Backsteingotik einst auch noch Seebrücken gebaut. Und sind heute ungemein stolz darauf. Doch wie kümmerlich sehen sie aus, wie sie da auf dürren Stöckeln ins Wasser ragen – zumal im Vergleich mit ihren englischen, selbstbewussten Schwestern, die auf Hunderten von Pfählen gebaut sind und selbst in den schlimmsten Stadien der Verwahrlosung noch Größe zeigen. Und auf denen etwas passiert: Da flanieren Menschen, essen, sitzen, spielen, schauen auf den Horizont. Nicht so an der Ostsee. Denn hinter dem Horizont liegt wieder nur Ostseestrand. Das kann ja nicht beflügeln.

Sowohl die Deutschen als auch die baltischen Staaten hätten die Möglichkeit gehabt, dem schwedischen Idyll etwas Eigenständiges entgegenzusetzen. Aber sie haben die Chance verschenkt. Überall wird gebaut, als ob jemand einen Wettbewerb der Kleinkariertheit ausgeschrieben hätte. Die Fußgängerpromenade in Nidden auf der Kurischen Nehrung sieht aus wie die neu planierte Strandanlage in Kühlungsborn: zu Tode gepflegt. Riga malert seine Häuser so bunt an, dass es wie eine Spielzeugstadt wirkt und sich hüten muss, nicht auszusehen wie Legoland. Das ist nämlich ein Vorbild hier, drum gibt’s die Spielzeugstadt auch gleich zwei Mal in der Gegend.

Die Neubauten an der deutschen Küste lassen einen schaudern: Da werden falsche Holzbalustraden vor Kunststofffenstern angebracht und Steildächer auf fünfgeschossige Hotelbauten gesetzt, und alle spielen gute alte Zeit. Dabei gäbe es Vorbilder für zeitgemäßes Bauen in historischer Kulisse. Man bräuchte nur nach Holland oder in die Schweiz zu schauen. Wahrscheinlich liegt das im einen Fall an der frischen Brise von der Nordsee, im anderen an der klaren Bergluft; beides scheint dem Denken förderlich zu sein.

Manchmal halten die Ostseeler es aber in ihrer Mittelmäßigkeit nicht mehr aus. Dann schlagen sie über die Stränge. Entweder sie bauen Monumentalanlagen wie das vier Kilometer lange Nazi-Ferienheim Prora (und trauen sich bis heute nicht, was daraus zu machen), oder sie feiern sich selbst. Gleich drei weltgrößte Meeresfeste gibt es: die Kieler Woche, die Hanse Sail in Rostock und das Meeresfest im litauischen Klaipeda.

Weil die Bewohner natürlich wissen, dass das alles Selbstbetrug ist, bleibt ihnen nur eines: Sie betrinken sich. Der Chef des Klaipedaer Meeresfests kippte während seiner Ansprache vor zwei Jahren sturzbetrunken vom Podest. Er wachte im Krankenhaus wieder auf. Das führte zum Skandal, weiter getrunken haben sie alle dennoch. Aber gönnen wir ihnen den Rausch, ihr Los ist schließlich schwer genug.

mare No. 32

No. 32Juni / Juli 2002

Eine Polemik von Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.

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Vita Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.
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Vita Zora del Buono, geboren 1962, wuchs in Zürich auf und lebt seit 1987 in Berlin. Nach ihrem Architekturstudium an der ETH Zürich arbeitete sie mehrere Jahre als Architektin und Bauleiterin, bevor sie sich zu einem Berufswechsel entschloss und mit dem Schreiben begann. Sie ist Gründungsmitglied der Zeitschrift mare und betreut das Kulturressort.
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