Mit Davidstern und Totenkopf

Nur elf Jahre nach Kolumbus’ erster Fahrt nach Westindien flohen spanische Juden in die Karibik, aus Angst vor der Inquisition – und um Rache zu üben

Auf Jamaika liegt ein alter Friedhof mit seltsamen Grabsteinen. Auf dem Hunt’s Bay Cemetery ragen sieben über Jahrhunderte verwitterte Blöcke aus dem tropisch wuchernden Grün. In die Steine ist der Totenkopf über gekreuzten Knochen eingemeißelt – das uralte Schreckenssymbol der Piraten, möchte man glauben. Doch die Schriftzeichen unter dem Totenkopf sind hebräisch. Es sind jüdische Grabsteine, und sie erinnern daran, dass vor 400 Jahren tatsächlich auch Juden als Piraten durch die Karibik kreuzten. Sie kommandierten Kaperschiffe, die „Königin Esther“, „Prophet Samuel“ oder „Schild Abrahams“ hießen. Sie enterten mit Säbel und Pistole Galeonen, um Gold und Silber zu plündern. Doch anders als bei den berüchtigten Freibeutern wie Henry Morgan trieb die jüdischen Seedesperados nicht allein die Gier, sondern auch Verzweiflung, Hoffnung – und es trieb sie die Rache aufs Meer. Rache an Spanien, Rache für die Scheiterhaufen der Inquisition.

In Spanien lebt um 1400 eine halbe Million Juden, so viele wie im Rest Europas zusammen; es ist eine der ältesten, wohlhabendsten und stolzesten jüdischen Gemeinden überhaupt. Doch die spanischen Könige, die in der Reconquista die Muslime in Iberien besiegen, wollen zu- gleich auch die Juden vertreiben. Inquisitoren verfolgen sie; allein der finstere Großinquisitor Tomás de Torquemada verbrennt ab 1482 etwa 9000 Männer und Frauen. 1492 ist die letzte muslimische Enklave auf der Halbinsel bezwungen – und Königin Isabella, die geschworen hat, ihr Reich von allen „Häretikern“ zu reinigen, befiehlt nun auch allen Juden, entweder zum Katholizismus zu konvertieren oder das Land zu verlassen.

Nur, wohin? England hat bereits 1290 alle Juden des Landes verwiesen, Frankreich ist 1394 gefolgt. 100 000 Juden, so schätzt man heute, bleiben deshalb in Spanien und bekennen sich fortan zum Glauben ihrer Königin. Conversos werden sie genannt, Neuchristen, doch viele beten heimlich weiter in klandestinen Synagogen.

Hunderttausende, die nicht konvertieren wollen, fliehen in muslimische Reiche, etwa nach Marokko. Andere gehen zu Spaniens Erzfeind, den calvinistischen Niederlanden. Und zahllose Familien weichen zum portugiesischen Nachbarn aus. Aber es gibt noch ein Ziel für Spaniens bedrängte Minderheit: die Neue Welt.

Es ist einer der seltsamen Zufälle der Geschichte, dass genau in dem Jahr 1492, in dem die Reconquista beendet und die Vertreibung der Juden befohlen wird, Christoph Kolumbus Amerika, nun ja, „entdeckt“. Das Lateinamerika der Konquistadoren ist der erste Wilde Westen: ein weites Land, wo der König fern ist und die Autoritäten nicht so genau hinsehen. Ein Land, in dem man mit Geschick und Gewalt ein Vermögen zusammenraffen, zumindest jedoch so etwas wie Freiheit genießen kann.

Elf Jahre nach Kolumbus’ epochaler Reise besiedeln deshalb bereits jüdische Pioniere Brasilien, das zu Portugal gehörte und wo sie nicht verfolgt werden. Aber selbst in den spanischen Kolonien, in Mexiko oder Peru etwa, wo die Inquisition noch schwach ist oder ganz fehlt, gehen sie an Land – und auch in Jamaika. 1534 günden 50 jüdische Familien im Süden des Eilands die erste jüdische Siedlung Amerikas. Vielleicht, genaue Zahlen kennt niemand, stellen Juden schon bald 15 Prozent der Bevölkerung Jamaikas, neben wenigen spanischen Farmern und schwarzen Sklaven.

Doch 1580 fällt der portugiesische Thron an die spanische Dynastie, beide Reiche sind fortan vereint. Brasilien zählt nun zu Spanien. Die Kolonien konsolidieren sich, und das bedeutete auch, dass die Inquisition mächtiger wird in der Neuen Welt. Bald werden auch in Mexiko und Peru ihre Scheiterhaufen brennen und die conversos dort einen qualvollen Tod sterben. Für die Juden der Neuen Welt ist es, als ziehe sich eine Schlinge zu. Es ist an der Zeit, sich zu wehren.
Um 1600 wachsen die Söhne, Töchter, Enkel der aus Spanien Vertriebenen he- ran – und diese Generation flieht nicht länger. Sie bekämpft das Feuer der Inquisition mit dem Säbel des Piraten. 

Wenig genug ist von diesen Haudegen überliefert, für einen einzigen unter ihnen reichen die historischen Quellen zumindest so weit, dass man sein Leben skizzieren kann. Und was für ein Leben.

1605 werden in Lissabon 155 conversos von der Inquisition verhaftet und gefoltert. Nur durch Bestechung gelingt ihnen schließlich die Flucht nach Amsterdam. Einer der Davongekommenen ist der Händler Antonio Vaez Henriques. In der freien Luft Hollands kann er sich offen zum Judentum bekennen, stolz nennt er seinen Erstgeborenen Moses Cohen Henriques. Wahrscheinlich ist er schon 1603 geboren worden und hat also die Flucht mitgemacht. Aber man darf ihn sich nicht als abgerissenen Exilanten vorstellen. Zu Hause sprechen jüdische Händler wie die Henriques Spanisch und Portugiesisch als Muttersprachen, rasch lernen sie zudem Niederländisch. In Amsterdam stellen sie vielleicht ein Prozent der Bevölkerung, doch jeden zehnten Händler. 


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 132. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 132

No. 132Februar / März 2019

Von Cay Rademacher und Wyatt Gallery

Cay Rademacher, Jahrgang 1965, ist Journalist und Autor und lebt in der Provence. Gemeinsam mit Arno Herzig gab er 2007 Die Geschichte der Juden in Deutschland heraus.

Wyatt Gallery, Jahrgang 1975, freier Fotograf in New York und Trinidad und Tobago, hat das Buch Jewish Treasures of the Caribbean: The Legacy of Judaism in the New World veröffentlicht.

Mehr Informationen
Vita

Cay Rademacher, Jahrgang 1965, ist Journalist und Autor und lebt in der Provence. Gemeinsam mit Arno Herzig gab er 2007 Die Geschichte der Juden in Deutschland heraus.

Wyatt Gallery, Jahrgang 1975, freier Fotograf in New York und Trinidad und Tobago, hat das Buch Jewish Treasures of the Caribbean: The Legacy of Judaism in the New World veröffentlicht.

Person Von Cay Rademacher und Wyatt Gallery
Vita

Cay Rademacher, Jahrgang 1965, ist Journalist und Autor und lebt in der Provence. Gemeinsam mit Arno Herzig gab er 2007 Die Geschichte der Juden in Deutschland heraus.

Wyatt Gallery, Jahrgang 1975, freier Fotograf in New York und Trinidad und Tobago, hat das Buch Jewish Treasures of the Caribbean: The Legacy of Judaism in the New World veröffentlicht.

Person Von Cay Rademacher und Wyatt Gallery