Mississippi

Bemerkenswert, wie US-Amerikaner die Lebensader ihres Kontinents sehen: vorzugsweise in sehnsuchtsvoller Rückwendung zur Zeit der Raddampfer. Die Mississippi-Anrainer wissen wenig über die Binnenschiffe, die jährlich 500 Millionen Tonnen Ladung abliefern

Ich höre immer, dass wir Menschen den Lauf des Flusses verändern. Aber haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wie der Fluss den Menschen formt? Ich fahre seit 30 Jahren als Lotse auf dem Mississippi, und für mich gibt es da keinen Zweifel. Ich glaube, dass dieser Strom mit seiner Größe und Urgewalt die Menschen provoziert, ihre Kräfte zu messen.

Und dieses ewige Anrennen gegen die Natur hat sich in den Köpfen so festgehakt, dass die Leute nicht mehr anders können: Auch untereinander müssen sie sich ständig beweisen, wer der Stärkste ist. Ein Unentschieden passt dabei nicht in ihr Konzept – für die Menschen vom Mississippi ist irgendwie alles gleich eine Existenzfrage. Haben Sie schon einmal von den Wettbewerben im Augenausdrücken gehört? War unter den Flussschiffern im 19. Jahrhundert sehr beliebt: ein Ringkampf, bei dem es darum ging, den Kopf des Gegners so zu packen, dass man ihm mit den Daumen die Augen aus den Höhlen quetschen konnte. Ich wette, dass es so etwas am Ufer der Seine nie gegeben hat. Oder die Rennen der Dampfer auf dem Mississippi: Für den flüchtigen Titel des schnellsten Schiffs zwischen New Orleans und St. Louis haben die Kapitäne ihre Schiffe geprügelt, bis ihnen die Kessel um die Ohren geflogen sind. Wie auf der „Jenny Lind“ im April 1853. 18 Tote. Oder auf der „Kate Kearney“ im Februar 1854. Da kamen 50 Passagiere um, der reine Wahnsinn.

Heute geht es schon zivilisierter zu hier, aber ich bin mir hundertprozentig sicher, dass die Pioniere ihre Lust an der Kraftprobe weitervererbt haben. Wir sind doch gestern mit unserem Schubverband an St. Louis vorbeigekommen. Dann haben Sie das Denkmal am Ufer der City gesehen, diesen gigantischen Bogen aus Stahl und Beton. Sie können mit einer Tram innen bis ganz nach oben fahren, und bei viel Wind schwankt das Ding, dass einem seekrank wird da oben in 200 Meter Höhe. Links und rechts Aussicht auf flaches Land, und Lautsprecher erklären einem die Symbolik: das Tor zum Westen, von hier aus Expansion bis zum Pazifik, blablabla. Wenn Sie mich fragen, haben wir das Ding gebaut, um zu zeigen, dass es geht. Verstehen Sie, was ich meine? Na, und dann ist die Stadt verrückt nach Sport. Football, Baseball, Eishockey – diese Stadt vergöttert Athleten. Dasselbe übrigens flussabwärts in Memphis: Für Basketballspiele und Boxkämpfe haben sie dort eine Pyramide hingesetzt, die fast so groß ist wie das Vorbild, das der alte Cheops am Nil gebaut hat. Wo die Kraftmenschen zu Hause sind, hat Wettkampf denselben Status wie Religion.

Eines hat mich an Ihrem Land immer fasziniert: die Liebe der Menschen zu ihren Flüssen. In Deutschland stehen Kathedralen am Fluss – und bei uns? Silos. Getreide, Dünger, Zement. Ich übertreibe, klar. Aber Sie werden es ja sehen, wenn wir später Orte wie Cape Girardeau, Osceola oder New Madrid passieren. Die Menschen verstecken sich hinter meterhohen Flutmauern. Ein Restaurant mit Blick auf den Fluss? Da können Sie lange suchen. Das Ufer ist meist menschenleer, es sei denn, die Behörden malen Parkstreifen drauf wie in St. Louis oder Vicksburg. Auch kein schöner Anblick, oder? Aber es untermauert meine These, dass die Mississippi-Anrainer ihren Fluss nicht besonders schätzen. Wer sitzt schon gerne direkt am Highway? So sehen die Leute den Fluss. Ein Transportweg, der praktischerweise auch noch Kraftwerke mit Kühlwasser beliefert und Felder bewässert. Sie haben sich bestimmt schon gefragt, warum uns bislang kein einziger Passagierdampfer entgegengekommen ist. Ganz einfach: Weil niemand auf dem Mississippi reisen will. Ganze drei Schiffe fahren im Sommer zwischen St. Louis und New Orleans, die Raddampfer der Delta Queen Steamboat Company. Auf Rhein und Donau, habe ich mir sagen lassen, sind ganze Flotten von Flusskreuzern unterwegs, bei uns sind es drei Schiffe!


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mare No. 37

No. 37April / Mai 2003

Monolog eines Flusslotsen. Von Olaf Kanter

Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

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Vita Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.
Person Monolog eines Flusslotsen. Von Olaf Kanter
Vita Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.
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