Michael Mann

Die Sommerferien in der Villa Caruso auf Ischia waren die schönsten im Leben des jüngsten Mann-Kindes

Die Einbrecher kamen am 16. Juli 1959. Am Tag, nachdem ich Michael Mann kennengelernt hatte. In jenem Juli hatte mein Klassenkamerad Frido mich eingeladen, die Ferien mit ihm bei seinen Eltern zu verbringen in Forio d’Ischia, diesem Magnetpunkt, der Künstler aus vielen Ländern anzog. Und da sich bei Frido und mir, jetzt, an der Schwelle vom Teenager zum Twen, auch schon Aspirationen auf einen Kunstberuf ausgebildet hatten, wiegten wir uns in der Gewissheit, eigentlich dorthin zu gehören.

Am 15. Juli kamen wir auf der Insel an. Die Terrasse der Villa Caruso, die Michael Mann und seine Frau Gret gemietet hatten, gab einen atemberaubenden Ausblick über Weinberge aufs Mittelmeer frei. So tönte das Blau des Meeres ungewollt unser ganzes Verhalten; das Meer als Grundton unserer Wahrnehmung, es färbt bleibend auch die Erinnerung ein an alles, was während der Inselmonate geschah, sogar die Erinnerung an den Einbruch in die Villa Caruso. Als wir vom Strand zurückkamen, rügten wir erst uns selber, weil wir meinten, wir hätten die Balkontür offen gelassen. Doch als Frido feststellte, dass das Geld in seinem Portemonnaie abhandengekommen war, merkten wir, dass die Tür von außen gewaltsam aufgewuchtet worden war. Und als auch mein sorgfältig erspartes Feriengeld in meiner Brieftasche fehlte, da war klar, dass ein Bösewicht eingebrochen war. Fridos Wut ob der dreisten Übeltat war ebenso groß wie meine. Michael Mann aber kommentierte das Ereignis eher trocken-sarkastisch mit seinem unvergleichlichen Achselzucken und geradezu kindlicher Verschmitztheit. Noch am selben Abend überreichte er mir ein Bündel Lire-Noten. Es war der Betrag, den mir der Einbrecher entwendet hatte. Auf meinen Dank für den Ersatz nuschelte er lächelnd etwas Ausweichendes, gesprochenes Staccato. Dieser erste Eindruck von Michael Mann blieb.

Dass diese Kurzatmigkeit seiner Sprechweise sich auf sein ganzes Tun und sein Verhalten ausweitete, das hatte ich schon tags darauf erfahren. Nach dem Nachtessen erhob sich Michael Mann: „Gret und ich gehen ins Kino. Kommt ihr mit?“ Der Film war kaum 15 Minuten gelaufen, als Michael Mann aufstand. Er verließ das Kinogelände, wir folgten ihm. Unsere Vermutung, das Kindergeschrei und Müttergekeife habe ihn aus dem Kino vertrieben, erwies sich als irrig. An den folgenden Abenden forderte uns Michael Mann nach dem Nachtessen auf: „Kommt, wir gehen auf ein Viertelstündchen ins Kino!“ Es interessierte ihn nicht, welcher Film da gezeigt wurde, „auf ein Viertelstündchen ins Kino“, das gehörte zu den Abenden unseres Inseldaseins. Nach den 15 Minuten im Kino verließ Michael die flimmernde Stätte sichtlich entspannt, als müsse er nun nicht mehr mit seinen Stimmbändern den Gedanken nachhetzen, die ihm sein eiliger Verstand vorgab. Schwer zu erkennen, wann die Gedanken seiner Zunge vorausrannten und wann die Sprache sein Gehirn überholte. „Ich gehe nicht ins Kino, um einen Film zu sehen, sondern um den Ort zu wechseln.“

Ein brüsker Berufswechsel hatte aus dem erfolgreichen Bratschisten amerikanischer Symphonieorchester einen Sprachwissenschaftler gemacht. Er hatte als 40-Jähriger ein Germanistikstudium begonnen. Möglicherweise zeigte sich in diesem Wechsel ein Dilemma, dem schon sein Vater ausgesetzt war. Sein Musikerdasein hatte seiner Neigung zur Boheme entsprochen, und diese wurde gestützt durch die Sprunghaftigkeit seines Wesens. Die eher betuliche Lebensführung des Germanisten ermöglichte es ihm, das bohemehafte Ungestüm in sich zu bändigen, ohne den Kontakt zur Welt der Künste aufgeben zu müssen.

Zwei Sommer später, während eines neuerlichen Ischia-aufenthalts, war er voll eingetaucht in die Arbeit an seiner Dissertation zum Thema „Heinrich Heine als Musikkritiker“. Diesen Bogen zwischen Musik und Literatur spannte er bewusst: Er erlaubte ihm, seine Erfahrungen als ausübender Musiker in die Germanistik einzubringen. Ich fühlte mich geehrt und zierte mich gar nicht, als Michael Frido und mich bat, das Personenregister zu seiner Dissertation zu erstellen. Und so kam es, dass, während Michael in seinem Zimmer die Dissertation überarbeitete, Frido und ich nebenan Namenslisten anlegten und Seitenzahlen zuordneten.

Nach der Mittagsstunde übersiedelten wir an die abgelegene Bucht Cava dell’ Isola. Nicht, dass nun das Meer und der Strand Michael Manns Lebensweise verändert hätte. Ab und zu schwamm er einige Züge in Strandnähe. „Der Morgen gehört der Arbeit, der Nachmittag dem Meer“, hatte er als Devise ausgegeben. Nichtsdestoweniger arbeitete er auch am Strand weiter. Am Meer arbeiten, das hieß auch mit dem Meer arbeiten. Da hatte mir Frido erzählt, wie er mit seinem Vater in Maine einst ein veritables Harmonium durch den Sand zum Strand bugsieren musste, um dort unter lehrerhaft-väterlicher Aufsicht Kontrapunktsätze ins Wellenrauschen hineinzutippen. Den Naturgewalten durfte ruhig etwas abgetrotzt werden. Einfach so müßig am Strand liegen, das schien unvorstellbar, Müßiggang hatte produktiv zu sein.


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mare No. 101

No. 101Dezember 2013 / Januar 2014

Von Peter K. Wehrli

Peter K. Wehrli, geboren 1939, Schriftsteller, arbeitet seit 45 Jahren an seinem wachsenden Hauptwerk „Katalog von allem“. Er ist Vizepräsident des eurobrasilianischen Kulturzentrums „Julia Mann“ in Paraty nahe Rio de Janeiro.

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