Meine Insel in den Westen

Während eines Aufenthalts auf Rügen zwei Jahre vor der Wende regte sich im Herzen unserer Autorin der Aufruhr gegen das ­Ein­gesperrtsein in der DDR

Nach dem Abitur und einem praktischen Jahr in der Requisite des Elbe-Elster-Theaters in Lutherstadt Wittenberg mäanderte ich 1986 durch mein Leben und wusste nicht, was ich damit anfangen sollte in dieser DDR, in der ich nun einmal lebte und die mir wohl nie meinen Herzenswunsch gestatten würde, nach Paris zu fahren und dort die Champs-Élysées entlangzustreifen – mit einem schwarz-weißen Pünktchenkleid und kirschrotem Lippenstift, in der Handtasche einen Sartre-Roman.

Zum Germanistikstudium in Leipzig hatte man mich nicht zugelassen, und Kulturwissenschaften, die man mir stattdessen anbot, schlug ich aus, weil ich keine Propagandistin werden wollte. Aber darauf wäre es hinausgelaufen. Wahrscheinlich auch auf die unmissverständliche Ansage, dass man als Kulturfunktionär im „real existierenden Sozialismus“ nicht ohne Parteiabzeichen sein kann. Aber das hätte ich schon deshalb nicht gewollt, weil mein rigider Vater ein treuer SEDler war und ich gegen ihn opponieren wollte. Zum Glück aber kannte ich damals schon Paul und Gudrun, ein befreundetes Ehepaar, das 15 Jahre älter war als ich und zu dem ich mich sehr hingezogen fühlte.

Die beiden waren so anders als alle gleichaltrigen Erwachsenen in meiner Familie, sie lebten und liebten hippieesk, hörten die Stones und Joe Cocker, lasen Hesse und Böll, und tranken und feierten viel. Ich kellnerte ab und zu bei ihnen, sie leiteten die Gaststätte eines Kulturhauses, das sich in einer schönen, alten Jahrhundertvilla befand. Dort hatten wir herrliche, weinselige Abende und Debatten, wenn die Gäste längst gegangen waren, und ich schwor mir: Genau so will ich leben!

Für mich waren die beiden Freunde damals eine Offenbarung, mein Anschluss an die DDR-Boheme, mein Eintritt zu den Blumenkindern, die es bei uns im Osten nur vereinzelt gab, nicht als geschlossene Bewegung. Als ich im nahe gelegenen Leipzig eine Buchhändlerlehre abgeschlossen hatte, um mit irgendetwas anzufangen, sah ich Paul und Gudrun nur noch selten, und eines Tages eröffneten sie mir, sie würden wegziehen, nach Putbus auf Rügen. Dort würden sie das „Rosencafé“ leiten, eine uralte Instanz, zu DDR-Zeiten in Händen der Konsumgenossenschaft, 1828 als Gartenhaus erbaut für einen Fürsten, Malte von Putbus, und seitdem immer wieder Herberge für feine Leute, darunter auch Otto Graf von Bismarck, der hier die „Putbuser Diktate“ schrieb, die Verfassung des Norddeutschen Bunds.

Zur Insel fühlten wir uns alle hingezogen. Ein Sehnsuchtsort für alle und besonders für die Ost-Boheme. Mit ihren rauen Klippen und den wilden Winden, mit ihrer Ahnung von Freiheit hinterm Horizont war sie zugleich Geheimnis und Versprechen. Ein Ort schon immer auch für Schriftsteller und Künstler, das war in 40 Jahren DDR nicht anders. Was wir damals noch nicht wussten: In keinster Weise stand sie Inseln im Westen, in Italien oder Frankreich, nach. Vielleicht hätte die Kenntnis darüber das Fernweh und den Ausbruchswillen aus dem Käfig DDR gemildert, wahrscheinlich aber nicht.


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mare No. 147

mare No. 147August / September 2021

Von Judka Strittmatter

Judka Strittmatter, Jahrgang 1966, Autorin in Berlin, war vor zwei Jahren wieder einmal im „Rosencafé“. Eine junge Serviererin, die 1988 noch nicht geboren war, brachte ihr Kaffee und Kuchen und musste sich kurz anhören, wie es vor mehr als 30 Jahren war, hier zu kellnern.

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Vita Judka Strittmatter, Jahrgang 1966, Autorin in Berlin, war vor zwei Jahren wieder einmal im „Rosencafé“. Eine junge Serviererin, die 1988 noch nicht geboren war, brachte ihr Kaffee und Kuchen und musste sich kurz anhören, wie es vor mehr als 30 Jahren war, hier zu kellnern.
Person Von Judka Strittmatter
Vita Judka Strittmatter, Jahrgang 1966, Autorin in Berlin, war vor zwei Jahren wieder einmal im „Rosencafé“. Eine junge Serviererin, die 1988 noch nicht geboren war, brachte ihr Kaffee und Kuchen und musste sich kurz anhören, wie es vor mehr als 30 Jahren war, hier zu kellnern.
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