Meine Braut ist die See

Die Jugendträume von der Seefahrt, und was aus ihnen geworden ist

Mein Vater hatte mich an einem Sonntag zur Matinee in ein Kino am Kurfürstendamm geführt. Der Film hieß „Windjammer“ und handelte von einem großen Segelschiff und den Jungen, die damit über das Meer fuhren. Nach ein paar Märchenfilmen war dies mein erster Film für Große, und er trug ungemein zur Erweiterung meines Horizonts bei. Mein Entschluss stand lange vor dem Abspann fest. Ich wollte Matrose werden, um nicht zu sagen: ich musste. Keine andere Möglichkeit war mehr denkbar.

Wenn ich heute versuche, mich an den Film zu erinnern, will mir kaum ein Detail einfallen. Genau weiß ich nur noch, dass die Jungs sehr mutig waren und tagsüber andauernd die Masten hoch- und runtergeklettert sind und nachts in Hängematten geschlafen haben. Morgens wurden sie von einem Mann geweckt, der jedem einzelnen von unten durch die Hängematte in den Po getreten hat. Diese Methode erstaunte mich zwar einigermaßen, gehörte aber wohl zu einer der Botschaften des Films: Auf hoher See wird nicht lang gefackelt. Da herrschen nun mal raue Sitten. Ansonsten kann ich mich nur noch an ein großes Gefühl erinnern und an den Beschluss, dass ich so leben wollte: auf einem stolzen Schiff über die Ozeane gleiten. Bei Wind und Wetter nicht verzagen. Jeden Tag aufs Neue den Launen der Natur trotzen. Nachts in der Hängematte schlafen. Vielleicht müsste ich manchmal im Dunkeln, wenn niemand es bemerkt, ein kleines bisschen weinen. Ich träumte von Tapferkeit und Kameradschaft, von Einsamkeit und Abenteuern. Von diesem Tag an hatte ich eine Sehnsucht: das Meer und nichts als das Meer. Über mir wären nur die Wolken und die Sterne.

Hatte es Hauptpersonen gegeben? Hatte es womöglich außer der Fahrt über das Meer eine Handlung gegeben? Und wenn ja, welche? Keine Ahnung. Im Kino und im Fernsehen wird „Windjammer“ nicht gezeigt, und ich konnte keine Videothek ausfindig machen, die ihn verleiht. Das Filmlexikon erteilt eine nüchterne technische Auskunft: „Erste amerikanische Cinemiracle-Produktion, die durch dreidimensionale Bildwirkung und hervorragende Bildschärfe auf überdimensioniertem Format ein sehenswertes Leinwandpanorama in farbiger Vollendung zeigt. Der Zuschauer begleitet das norwegische Segelschiff ,Christian Radich‘ auf seiner acht Monate dauernden Atlantikfahrt von Oslo nach New York.“

Während ich noch die Befürchtung hege, am Ende habe gar eine optische Täuschung mein Leben derart entscheidend beeinflusst, fällt mir auf, dass acht Monate für die Strecke von Oslo nach New York eine viel zu lange Zeit sind. Sie haben bestimmt irgendwo Station gemacht. Wurden sie nicht auf einer Insel mit großem Hallo begrüßt? Aber war das nun Haiti oder Jamaika gewesen?

Mein Vater erklärte mir den Globus und sang mir Seemanns- und Piratenlieder vor. Bald konnte ich sie alle auswendig. Das waren meistens Lieder, die mit unserem Leben in der Großstadt zwischen meinem Kindergarten und seinem Chemielabor nicht besonders viel zu tun hatten, sich allerdings wohltuend unterschieden von dem Babykram, mit dem ich den ganzen Tag über abgespeist wurde. Am Abend las er mir „Pippi Langstrumpf“ vor. Pippi war ein ungewöhnliches Kind, das alleine mit einem Pferd und einem Affen in der Villa Kunterbunt lebte. Sie war so stark, dass sie ihr Pferd tragen konnte. Sowas konnte ich nicht, aber ich hatte auch kein Pferd. Ihr Vater war Kapitän und segelte mit seinem Schiff „Hoppetosse“ auf den großen Meeren.

Bevor ich das Licht ausmachen musste, haben wir immer noch ein Lied gesungen. Wir waren eine Piratenbande, und ich war der Häuptling. „Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein.“ – „Schlaf’ gut und träum’ was Schönes.“

An den Montagen durften wir in Opas altmodischem Friseursalon Polarfahrt spielen. Mein Bruder Christian und ich waren abwechselnd Amundsen und Scott. Weiber hatten an Bord nichts zu suchen. Die Reise ging zum Pol. Unser Schiff bestand aus zwei einander gegenüber gestellten Frisiersesseln, die uns mit ihren vielen verschiedenen Schrauben und Hebeln das nötige nautische Instrumentarium lieferten. Vorne der Schrubber, hinten der Besen. An ihre Stiele hatten wir Segel aus weißen Frisierumhängen gebunden. Selbstverständlich hatten wir Verpflegung und Munition geladen, Käsestullen, Marzipanschokolade und für die Pistolen Sechserknaller und Wasser. Man muss immer Trinkwasser an Bord haben, und das darf nicht in den Kesseln faulen. Sonst bricht die Pest aus. Und dann geht täglich einer über Bord. Dass die klimatischen Bedingungen des Eismeers die Problematik der Trinkwasserversorgung eventuell anders gestalten könnten, kümmerte uns wenig. Wir fragten nicht nach Norwegen und Großbritannien, nicht nach McMurdo-Bucht oder Ross Bay. Genauso, wie wir nicht debattierten, ob wir Hundeschlitten und Huskys mit an Bord hätten oder Motorschlitten. Die Grundsatzdiskussion, die in der Geschichte der Seefahrt immer wieder geführt wurde, ob eher dem technischen Fortschritt oder der menschlichen Erfahrung zu trauen sei, war uns schnurzegal. Wir fuhren auf demselben Schiff. Wir sangen unsere Lieder und brüllten unsere Kommandos durch den Herrensalon, dass die Spiegel an den Wänden klirrten: „Bramsegel setzen!“ – „Aye, aye, Sir!“ – „Volle Fahrt voraus!“ Wir drehten Backbord bei und legten unser Schiff vor den Wind. Mit unserem Fernrohr, das wir aus Klopapierrollen gebaut hatten, erspähten wir das Ewige Eis der Antarktis, dessen ganze Pracht vor uns noch nie ein Mensch gesehen hatte, und Abertausende von Pinguinen. „Land in Sicht!“ Aus der Bezirksbücherei holte ich Bücher über Entdecker und Abenteurer, damit wir eine Handlung und Parolen für den nächsten Montag hatten.

Mit einem weiteren Kinofilm goss mein Erziehungsberechtigter Öl ins Feuer meiner Leidenschaft. Diesmal gab es „Die Meuterei auf der ,Bounty‘“ mit dem grausamen Kapitän Bligh und dem großen Helden Fletcher Christian in der Südsee. Ich überlegte mir, dass es wahrscheinlich nicht auf jedem Schiff so zuginge. Die Fahrt der „Bounty“ war sicher eine Ausnahme. Deshalb haben sie auch den Film gedreht. Bevor man anheuert, muss man sich eben genau informieren. An Fasching durfte ich mich als Pirat verkleiden.

In Wirklichkeit aber hatte ich schon selbst Kurs auf die Südsee genommen. Daran konnte mich kein Bligh der Welt hindern. Ich malte mir aus, wie es werden würde, wenn ich eines Tages durchbrannte. Wenn das Schiff, auf dem ich mitführe, die Anker lichtete und mit prallen Segeln aus dem Hafen liefe. Ich nähme nur wenig Gepäck mit. Das wäre praktischer. Die meisten von meinen Sachen ließe ich zu Hause. Und dieses ganze Kinderspielzeug wäre ja sowieso entbehrlich unter Männern. Besser schwimmen lernen müsste ich noch vorher. Für alle Fälle und wegen der Äquatortaufe. Ich war von der Idee besessen, in diese sonderbare weite Welt hinauszufahren. Wenn wir erst die Tropen erreicht hätten, würde ich nur in kurzen Hosen barfuss an Deck arbeiten. In meinem Kopf lief ein Film, der an weißen Stränden und unter Kokospalmen spielte, in kristallklaren Wassern und unter blauen Himmeln. Ich segelte über die sieben Meere. Ich lernte die südliche Halbkugel und die Schönheit der Tahitianerinnen kennen, die Ketten aus Blüten in den verrücktesten Farben trugen und in Hütten mit Dächern aus Palmwedeln lebten, und ihre Gastfreundschaft. Schon zum Frühstück gab es geröstete Brotfrüchte, Bananen und Kokosmilch. Mit den Kanus fuhren wir zu den Korallenriffen. Wir tauchten nach Perlen. Im Dschungel fanden wir einen Schatz. Ja, so wäre sie, die große Freiheit. Taschentücher schwenken und Tränen vergießen würden nur die, die am Kai stehenblieben. Mich würde die Heimat so schnell nicht wiedersehen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 4. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

Von Beate Möller

Beate Möller, Jahrgang 1959, lebt als freie Journalistin in Berlin. Die Kabarettexpertin schreibt Radiofeatures und Hörspiele und veröffentlicht in deutschen und Schweizer Zeitschriften.

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Vita Beate Möller, Jahrgang 1959, lebt als freie Journalistin in Berlin. Die Kabarettexpertin schreibt Radiofeatures und Hörspiele und veröffentlicht in deutschen und Schweizer Zeitschriften.
Person Von Beate Möller
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