Mein lieber Herr Gesangsverein!

Im Vergleich der beiden Küsten erweist sich der Unterschied zwischen beiden Meeren: Die Ostsee singt, die Nordsee schweigt

In Litauen wurde 1991 der Komponist Vytautas Landsbergis zum Staatspräsidenten gewählt und wenig später ein Matrosen-Punksong zur Quasi-Nationalhymne erkoren; Polen und Russen haben bekanntlich schon immer gerne gesungen; Finnen sind geradezu Tango-vernarrt; Schweden mischt spätestens seit Abba in der internationalen Musikszene mit, und in Dänemark kennt man ebenfalls viele lustige Lieder. Im ostelbischen Deutschland hatte zuletzt das sozialistische Liedgut ein Zuhause, und die Wende wurde dort von einem Dirigenten namens Kurt Masur angeführt. Der Schweizer „Weltwoche“-Korrespondent Christoph Neidhardt geht in seinem Buch „Ostsee“ sogar so weit zu behaupten, dass es sich dabei um ein Meer der Gesänge handelt. So spricht er von der „singenden Revolution der Esten“, die in ihrer Hauptstadt im Übrigen das größte „Gesangsstadion“ der Welt errichteten. Zu Zeiten der Hanse konnten „fahrende Spielleute und Ratsmusiker in jeder Stadt an der Ostsee arbeiten“.

Gesungen wurde an der Ostsee bereits lange vor der Christianisierung: „Auf den Dörfern wurde mit Drehleiern, Strohfideln, Trummscheiten und Sackpfeifen musiziert.“ Neben der Gesangskunst, die am Mare Balticum gedeiht, arbeitet der Autor auch heraus, dass die Ostsee a) „ein Milchsäuremeer“ und b) „eine See der starken Überzeugungen“ ist – gemeint sind vor allem Sozialdemokratismus und Bolschewismus, ferner, dass man dort überall gerne Kaffee trinkt. Und dann steigt auch noch das Land ringsum langsam aus dem Meer empor.

Genau umgekehrt ist es an der Nordsee: Hier handelt es sich bei den Küstenstreifen durchweg um sinkendes Land. Statt Kaffee bevorzugt man Tee. Und von den Anwohnern des Mare Frisicum behauptete bereits der römische Geschichtsschreiber Tacitus kategorisch: „Frisia non cantat.“ Seitdem haben unzählige Volkskundler den Beweis erbracht, dass die Friesen nicht nur kaum eigenes Liedgut besitzen, sondern überhaupt wenig auf Dichtung und Literatur geben. Dafür haben sie anscheinend eine Begabung für Mathematik. „Am ausgesprochensten ist der Sinn der Friesen fürs Rechnen“, schreibt Friesenforscher Rudolf Muus. Erklärt wird dies unter anderem damit, dass das in getrennten Nordseeregionen, Holland, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, siedelnde Küsten- und Handelsvolk keine Einheitssprache hat, so dass die Verständigung über eine vierte – Hochsprache – erfolgen muss.

Dennoch oder desungeachtet waren die Friesen fast immer frei: Sie haben Schlachten gegen Adels- und Bischofsheere gewonnen und erfolgreich städtische Revolutionen durchgeführt. Um 1230 wird ihnen quasi offiziell bescheinigt: „Omni jugo servitutis exuti“ – sie haben das Joch der Knechtschaft verlassen. „Seltsam nahm sich Friesland unter den deutschen Territorien aus“, schreibt der Groninger Historiker I. H. Gosses: „Kein Graf, keine Lehnsleute, fast keine Ritter, keine Unfreien, keine ummauerten Städte; ein Land freier Bauern“, in dem „Amtsgewalt nicht von oben – von einem Grafen, der den König vertritt –, sondern von unten, aus der Rechtsgemeinde“, hervorgeht, deren Bemühungen schließlich ins kodifizierte Stammesrecht Lex Frisiorum münden.

Im politischen Kampf um den Erhalt „friesischer Identität“ war noch 1848 der Schriftsteller Theodor Storm in das ihm verhasste preußisch-deutsche Exil abgetrieben worden, nachdem das dänische Heer die „schleswig-holsteinische Freiheitsbewegung“ zerschlagen hatte. Auch als dann einige Jahrzehnte später Preußen an der Düppeler Schanze die Dänen zurückschlug und Storm als Landvogt im Triumph nach Husum heimkehrte, konnte er sich nicht recht über diese Fremd-„Befreiung“ freuen.

Deutschland und Friesland wissen die Friesen bis heute sauber zu unterscheiden. So antwortete mir zum Beispiel der Emder Bürgermeister auf die Frage, was er früher gewesen sei: „Die bisherige ostfriesische Evolution verlief vom Bauern und Fischer über den Hafen- und Werftarbeiter zum VW-Arbeiter. Ich habe ebenfalls auf der Werft gearbeitet, aber auch in Deutschland – vier Jahre in Köln –, dann bin ich jedoch wieder nach Emden zurückgegangen.“

Die Beharrlichkeit der Friesen erklärt die Forschung damit, dass sie in den Marschen auf von ihnen selbst geschaffenem Land siedeln: „Deus mare, Frisio litora fecit“, so sagen sie es selbst, Gott schuf das Meer und die Friesen die Küste. Diese wenig christliche, selbstbewusste Haltung im Verein mit ihrer Neigung zu Partisanentum, Piraterie und Strandräuberei hat die Kirche lange Zeit vergeblich zu bekämpfen versucht, sie hatte dort denn auch mancherorts schon Schwierigkeiten, den Zehnten einzutreiben, auf Sylt zum Beispiel, und ihr altes heidnisches Heiligtum Helgoland ist bis heute eine zoll- und steuerfreie Zone.


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mare No. 50

No. 50Juni / Juli 2005

Ein Essay von Helmut Höge

Der Autor Helmut Höge, geboren 1947 in Bremen, wuchs auf in der Wesermarsch, arbeitete als Dolmetscher bei der US Air Force sowie bei einem indischen Tierhändler, studierte Sozialwissenschaften und war landwirtschaftlicher Betriebshelfer, schließlich – bis heute – Journalist. Zuletzt erschienen Reportagen von ihm im Verlag Peter Engstler unter dem Titel Neurosibirsk.

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Vita Der Autor Helmut Höge, geboren 1947 in Bremen, wuchs auf in der Wesermarsch, arbeitete als Dolmetscher bei der US Air Force sowie bei einem indischen Tierhändler, studierte Sozialwissenschaften und war landwirtschaftlicher Betriebshelfer, schließlich – bis heute – Journalist. Zuletzt erschienen Reportagen von ihm im Verlag Peter Engstler unter dem Titel Neurosibirsk.
Person Ein Essay von Helmut Höge
Vita Der Autor Helmut Höge, geboren 1947 in Bremen, wuchs auf in der Wesermarsch, arbeitete als Dolmetscher bei der US Air Force sowie bei einem indischen Tierhändler, studierte Sozialwissenschaften und war landwirtschaftlicher Betriebshelfer, schließlich – bis heute – Journalist. Zuletzt erschienen Reportagen von ihm im Verlag Peter Engstler unter dem Titel Neurosibirsk.
Person Ein Essay von Helmut Höge