Mein Hooge, 9.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Heute versucht er sich als Hobbyarchäologe

Ich habe einen Kollegen, der meint, Archäologie sei eine langweilige Wissenschaft. Ich kann das nicht beurteilen. Wenn ich an Archäologie denke, denke ich an Indiana Jones. Teil eins, zwei und drei, das waren Filme für die Ewigkeit. Das waren die besten Abenteuer meiner Kindheit.
Bei meinem jüngsten Besuch auf Hallig Hooge hatte ich die Gelegenheit, mir selbst ein Bild zu machen. Der Hooger Bürger Dirk Bienen-Scholt, Jahrgang 1980, nahm mich mit ins Watt. Seit vergangenen Sommer ist er ehrenamtlicher Vertrauensmann des Archäologischen Landesamts Schleswig-Holstein. Man könnte auch sagen: Er ist der Indiana Jones von Hooge.

Seine Aufgabe ist es, archäologische Spuren im Watt zu suchen. Für mich klingt das wie eine unlösbare Aufgabe. Ich sehe im Watt nur die Spaghettihäufchen der Wattwürmer. Ansonsten nichts als große, matschige Leere. „Wart’ ab“, sagt Bienen-Scholt, als wir uns auf den Weg machen. „Das Meerwasser hat konservierende Wirkung. Wir werden viele Spuren entdecken.“
Also los.

Es ist ein kalter, windiger Wintertag. Bienen-Scholt trägt Fleecejacke und seine Ausrüstung, leichter Spaten und Metalldetektor. Mit dabei sind zwei Profiarchäologen des Landesamts. Von der Lorenzwarft geht es ein Stück am Deich entlang nach Nordwesten, dann hinein ins Watt. Ich friere, trotz Winterjacke und dickem Pulli, sinke immer wieder mit halber Gummistiefellänge im Schlick ein. Die anderen drei eilen mir davon. Sind Archäologen immer solch sportliche Typen?

Dann ruft Bienen-Scholt zu mir herüber: „Hier!“ Sie warten geduldig, bis ich eintreffe. Wir sind vielleicht 100 Meter von der Halligkante entfernt. „Schau, ein Rinderbein.“ Fasziniert starre ich den Knochen an. Ich erkenne deutlich Ober- und Unterschenkel. „Bestimmt 200 Jahre alt“, sagt einer der Profiarchäologen. Und wir finden noch mehr: eine Schweinekieferhälfte mit Zähnen, einen Schafsknochen, rote Backsteine, die von Häusern stammen, etliche Bronzeknöpfe, Schrotkugeln. Und sehr viele Scherben. Scherben von Keramikgefäßen, Scherben von prächtig verzierten Kachelöfen, 200, 300, 400 Jahre alt.

Agatha Christie, die mit einem Archäologen verheiratet war, sagte einmal: „Scherben bringen Glück – aber nur Archäologen.“ Ich finde, dass sie unrecht hatte. Ich sehe all die jahrhundertealten Scherben im Watt, fasse sie an, streiche über ihre Oberflächen – und bin aufgeregt wie ein Schuljunge. „Hier lag früher die alte Volkertswarft“, erklärt Bienen-Scholt. Bei der großen Sturmflut von 1825 seien die Reste von ihr endgültig untergegangen.

Hallig Hooge war einst deutlich größer, erfahre ich. Jedes „Land unter“ brachte neues Sediment und ließ die Hallig wachsen. Andererseits holte sich das Meer bei schweren Sturmfluten stets Teile davon zurück. Die schlimmsten Sturmfluten (nach Bildung der Halligen im 14. Jahrhundert) ereigneten sich 1634 und eben 1825. All die Warften, die es auf Hooge einmal gab, die alte Volkertswarft, Klein- und Großsüderwarft, Sievertswarft, Fedder Bandixwarft, Boyenswarft, all die Kirchen, all die Torfgräben, sie liegen seither verborgen im Schlick.
Deren Reste aufzusuchen und die Veränderungen zu dokumentieren, das ist das, was Bienen-Scholt tut, archäologische Denkmalpflege. In den Sommermonaten läuft er zwei-, dreimal in der Woche hinaus aufs Watt, mehrere Stunden lang, mit Spaten und Detektor. Bienen-Scholt ist ein fleißiger Indiana Jones.

Er erlebt dabei keine waghalsigen Abenteuer. Dafür entdeckte er im Februar 2017 zusammen mit Freunden westlich von Hooge ein Schiffswrackteil, drei mal fünf Meter groß, mit ungewöhnlichen Planken. Ein Archäologenteam rückte daraufhin an, nahm Holzproben, vermaß die Bauteile, schoss Bilder für ein 3-D-Modell.

War es etwa ein Schiff, das Störtebeker, der nachweislich die Halligen als Versteck nutzte, zum Opfer fiel? Oder kenterte es gar auf dem Weg ins sagenumwobene Rungholt?
Nichts davon. Es war ein Handelsschiff aus dem 17. Jahrhundert, eine Halbkraweele, befand Stefanie Klooß, Leiterin Praktische Archäologie im Landesamt. „Noch nie wurde solch ein Schiff in der Nordsee gefunden.“

Mein Kollege würde jetzt sagen: wie langweilig. Ich würde sagen: beachtliche Leistung, Herr Bienen-Scholt! Und beim nächsten Mal entdeckt er Atlantis.

mare No. 139

mare No. 139April / Mai 2020

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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