Mein Hooge, 8.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Heute nimmt er an einer Beerdigung teil

Neulich las ich in der Spiegel-Titelgeschichte über Selbstoptimierung den Satz: „Denken Sie öfter an Ihre Beerdigung.“ Seitdem mache ich mir Gedanken, wie mein Ende aussehen könnte. Ich habe sogar eigens eine Beerdigung auf Hooge besucht, zur Inspiration. Und ich muss sagen: Ja, so kann ich mir mein Ende gut vorstellen. Auf Hooge.

Dabei war es auf Hallig Hooge lange Zeit eine komplizierte Angelegenheit, aus dem Leben zu scheiden. Amtlich zu sterben war bis 1956 sogar unmöglich. Weil es damals (wie heute) keinen Arzt auf der Hallig gab, gab es auch niemanden, der den gesetzlich vorgeschriebenen Totenschein ausstellen konnte. Das führte vor allem in Versicherungsfällen zu erheblichen Schwierigkeiten.

Dann aber hatte der Husumer Landrat ein Einsehen und befugte den Hooger Bürgermeister. Heute ist es der Hooger Krankenpfleger, der diesen bürokratischen Akt übernimmt.

Sterben auf Hooge war schon immer anders.

Ist der letzte Atemzug getan, wird zum Beispiel kein Bestatter gerufen. Es gibt nämlichen gar keinen auf Hooge. Theoretisch könnte man zwar einen vom Festland kommen lassen. Doch der würde die Frist von 36 Stunden, binnen derer in Schleswig-Holstein ein Leichnam abgeholt werden muss, sowieso nicht einhalten können. Im Winter fährt ja manchmal tagelang keine Fähre.

Also bleibt der Leichnam erst einmal an Ort und Stelle, idealerweise im Kreis der Liebsten. Karen Tiemann, als Kirchengemeinderatsvorsitzende eine Art Expertin in Sachen Sterben auf Hooge, erinnert sich noch gut an den Tod ihrer geliebten Tante im Jahr 2000. „Sie starb hier in unserem Haus auf der Backenswarft. Es war Winter, und da haben wir einfach die Heizung runtergedreht. Das geht über mehrere Tage ganz gut, ohne dass es riecht.“

Ich mag diesen Pragmatismus. Das nimmt dem Tod seine Bedrohlichkeit.

Früher, bis Anfang der 1980er-Jahre, war es die Hallighebamme, die auf Hooge offiziell die Bestatteraufgaben übernahm. Sie war die Totenfrau der Hallig. Sie wusch die Leichen, zog sie an. Goethes Ausdruck „Von der Wiege bis zur Bahre“ traf nirgendwo besser zu als auf Hooge.

Heute packen irgendwie alle mit an. Nur 100 Menschen leben auf Hallig Hooge, aber es finden sich immer Freiwillige, die das Grab schaufeln oder den Sarg tragen. Die die Blumen besorgen oder den Kaffee kochen. Das aktuelle Konfirmandenkind klopft an jede einzelne Haustür und verkündet den Tod des Hoogers, „Rundsagen“ nennen sie das hier, eine alte Tradition. Für die wichtigsten Dinge ist auf der Hallig sowieso gesorgt: In einem Raum zwischen Kirche und Pastorat befindet sich stets einsatzbereit ein leerer Sarg. Und dort steht auch der legendäre Hooger Leichenwagen.

Es handelt sich dabei um einen Westfalia-Bestattungsanhänger aus den 1960er-Jahren. Eine Art zu klein geratener Wohnwagen, ganz in Schwarz, mit stilisierten Palmblättern an den Fenstern. Oldtimerfans würden begeistert sein. Ebenso wie das ZDF, das den Leichenwagen eigens für eine Krimiproduktion auslieh.

Hier also endet das Leben eines jeden Hoogers, in diesem charmanten Retrogefährt. Der Sarg wird darin transportiert, von der Warft des Ablebens zum Friedhof auf der Kirchwarft, gezogen von starken Männern, begleitet von einem Trauerzug. Jeder Hooger, der es zeitlich einrichten kann, geht mit.

So war es auch bei der Beerdigung von Ingeborg Dell Missier, an der ich teilnahm. Die Frau des Altbürgermeisters Otto Dell Missier starb am 30. November 2019 in einem Seniorenheim auf dem Festland, es ist das Schicksal vieler alter Hooger. Am Tag der Beerdigung holte man den Leichnam in Schlüttsiel ab und brachte ihn per Fähre nach Hooge, mit dem Retrogefährt. Prädikantin Gertrude von Holdt-Schermuly hielt den Trauergottesdienst auf Plattdeutsch. Auf den Handzetteln, die verteilt wurden, stand unter dem Foto der Verstorbenen ein Bibelzitat: „Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig; der Herr aber ist noch größer in der Höhe.“

Es war anrührend. Nur einen Wermutstropfen gab es: Meine eigene Beerdigung auf Hooge bleibt unerreichbar. Karen Tiemann sagte mir: „Nur echte Hooger werden bei uns beerdigt.“ „Echt“ sind nur hier geborene und deren enge Verwandte. Hooge-Kolumnisten gehören definitiv nicht dazu.

mare No. 138

mare No. 138Februar / März 2020

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

Mehr Informationen
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith