Mein Hooge, 6.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Heute versucht er sich als Restauranttester

Auf Hooge gibt es DREI Restaurants, die im Sommer geöffnet haben. Eines davon ist die „T-Stube“ auf der Hanswarft, eine ehrwürdige Gaststätte, die in einem der ältesten Reetdachhäuser Hooges untergebracht ist. Diesem Lokal stattete Marie-Chantal Tajdel, Journalistin beim Bremer „Weser-Kurier“, vor einiger Zeit einen Besuch ab und schrieb darüber einen kleinen Artikel in ihrer Zeitung.

Um es gleich vorwegzunehmen: Die „T-Stube“ hat Frau Tajdel nicht gefallen. Ganz Hooge hat ihr nicht gefallen.

Was ist passiert?

Tajdel und ihr Mann hatten mit ihrem Segelboot im Hafen angelegt, hungrig und entkräftet von der sengenden Sonne. Sie machten sich – wie die anderen schätzungsweise fast tausend Tagesgäste auch – auf die Suche nach einem Restaurant.

Man kann so einen Spaziergang auf Hooge genießen. Frau Tajdel genoss ihn nicht. Sie schreibt „Um uns herum nur eingetrockneter, rissiger Schlick“ und empört sich über einen „riesenhaften“ vorbeischießenden Pferdewagen. „In letzter Sekunde rettet sich mein Mann Frank mit einem Hechtsprung in einen Graben.“

Vorbei an der Kirchwarft, wo es nichts zu essen gab, erreichte das Paar die Hanswarft. Die Restaurants dort seien übervoll gewesen, schreibt Tajdel. „Kellnerinnen mit dem Charme einer Kalaschnikow herrschten in den Gaststätten wie kleine Götter.“ „Schnauzend“ hätten sie den Gästen Gerichte serviert, die „das Wort Essen nicht verdienen“. Dem Paar wurde etwas auf den Tisch „gefeuert“; es handelte sich um „säuerlich konservierte Krabben, durchsupptes, weiches Toastbrot – was auf Hooge euphemistisch Halligbrot genannt wird – und zu allem Übel auch noch dick mit Margarine bestrichen und mit glibberigen Eiern garniert wird“.

Ich las diesen Text zweimal. Beim ersten Mal staunte ich über die Wut der Autorin. Beim zweiten Mal kam mir eine Idee: Wie wäre es, wenn ich mich auf die Spuren von „Weser-Kurier“-Redakteurin Marie-Chantal Tajdel begebe? Um zu erfahren, ob etwas dran ist an dem, was sie schreibt. Ich würde dabei die exakt gleiche Route und das exakt gleiche Restaurant wie Tajdel nehmen. (Ob es wirklich die „T-Stube“ war, lässt Tajdel offen. Aber mehrere Hooger sind sich sicher, dass dieses Lokal gemeint ist.)

So stehe ich wenig später an einem heißen Sommertag am Hafenbecken von Hooge und marschiere los. Die Sonne brennt, ich habe Hunger, und schon überholt mich die erste Pferdekutsche. Nur muss ich nicht in den Graben springen. Es reicht, einen Schritt zur Seite zu treten.

Ich passiere die Kirchwarft und laufe gemütlich weiter zur Hanswarft, wo ich einen Platz auf der schönen Terrasse der „T-Stube“ ergattere. Die Kellnerin rennt hin und her, von Tisch zu Tisch, man sieht, dass sie Stress hat. Dann tritt sie zu meinem Tisch und sagt: „Bitte schön.“ Sie würdigt mich keines Blickes. Starrt stoisch in ihren Kellnerblock. Kein Lächeln. Kein überflüssiges Wort. Als wäre ich gar nicht da. So muss das im Sozialismus gewesen sein, denke ich. Ich bestelle das Halligbrot, bald darauf liegen zwei Scheiben Schwarzbrot (kein Toast) mit Krabben (nicht säuerlich) und einem Spiegelei (nicht glibberig) vor mir. Wie es schmeckt? In Ordnung. Wie viel es kostet? Unsozialistische 18,50 Euro.

Gesättigt spreche ich die Kellnerin an, diskret. Ob die Chefin da sei? Sie sagt, sie sei die Mutter der Chefin. Ob sie den Artikel aus dem „Weser-Kurier“ kenne? Schweigen. Doch auf einmal sprudelt es aus ihr heraus. „Ich arbeite hart.“ „Sollen sie doch im Internet schreiben, was sie wollen.“ „So ein Artikel trifft mich.“ Sie hat Tränen in den Augen. Jetzt bin ich es, der verstummt.

Später erfahre ich: Lucyna Windorpski arbeitet alleine in der „T-Stube“. Ohne Mann (der existiert nicht). Ohne Tochter Pamela (die zwar offiziell Chefin ist, aber als Krankenschwester in Heide arbeitet). Nur mit ein paar polnischen Aushilfen. Hunderte Tagestouristen stürmen in den Sommermonaten täglich ihr Lokal, haben es eilig, wegen der knappen Fährzeiten, sie schimpfen über den Service, über die Spiegeleier, über alles. Jemand auf Hooge erzählt mir, dass Lucyna manchmal weint, wenn es keiner sieht.

Ob Frau Tajdel von den Tränen weiß? Ich jedenfalls nehme den Sozialismus zurück. Und mein Restauranttestergehabe. Entschuldigung, Frau Windorpski.

mare No. 136

No. 136Oktober / November 2019

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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