Mein Hooge, 5.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Heute will er wissen: Wie lebt es sich ohne Polizei?

Weil ich stets bemüht bin, die deutschen Gesetze einzuhalten, schnallte ich mich ordnungsgemäß an, als ich neulich auf dem Beifahrersitz eines Hooger Autos Platz nahm. Der Fahrer, ein Bürger der Hallig, wollte mich netterweise vom Anleger zur Hanswarft bringen. Eine Fahrt von vielleicht drei Minuten. Doch statt Gas zu geben, schaute er mich bedeutungsvoll an und sagte: „Das ist spießig.“ „Äh, was meinst du?“, fragte ich. „Na, den Gurt. Auf Hooge schnallt man sich nicht an.“ „Aha.“ Ich schnallte mich wieder ab. Spießer wollte ich nun wirklich nicht sein.

Es gibt auf Hooge vielleicht 40 zugelassene Kraftfahrzeuge. Ein Dutzend davon habe ich schon einmal fahrend gesehen. Es stimmt tatsächlich: Nie ist jemand angegurtet. Nicht der Kaufmann. Nicht der Krabbenfischer. Nicht der Hafenmeister. Die Hooger treten den $ 21a Abs. 1 der StVO („Vorgeschriebene Sicherheitsgurte müssen während der Fahrt angelegt sein“) mit Füßen.

Sie tun es, weil sie es können. Denn es gibt auf Hooge keine Polizei. Keinen Ordnungsbeamten. Hooge ist wie ein Dorf ohne Dorfsheriff. Die einzige Person, die per Gesetz Knöllchen verteilen dürfte, ist die Bürgermeisterin. Doch die fährt selbst unangeschnallt. Und parkt falsch am Anleger (übrigens der einzige Ort auf Hooge, wo man überhaupt falsch parken kann). Die Hooger halten es wie Konrad Adenauer. Der sagte einmal: „Natürlich achte ich das Recht. Aber auch mit dem Recht darf man nicht so pingelig sein.“

Ich teile die Meinung Adenauers und der Hooger. Wer mag schon pedantische Tausendprozentig-richtig-Macher? Solange sie niemanden gefährden, sollen die Hooger ruhig kollektiv ein paar ungeliebte Regeln brechen. Das erleichtert das Leben und stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Damit sind sie ja noch lange keine kriminelle Vereinigung.

Im Gegenteil. Die Kriminalitätsrate auf Hooge ist extrem niedrig und das Sicherheitsempfinden so hoch, dass die Bewohner ihre Häuser und Autos über Monate unabgeschlossen lassen. Gewaltverbrechen gibt es praktisch gar keine. Hallig Hooge ist wie ein soziologischer Feldversuch, der beweist, dass es keiner ständigen staatlichen Kontrolle bedarf, damit eine Gesellschaft funktioniert.

Allerdings, wenn doch einmal ein Verbrechen auf Hooge passiert, dann hat es gleich etwas Unheimliches. Nehmen wir die Einbruchserie im Halligsupermarkt auf der Hanswarft. Zwei Sommer hintereinander kamen die Diebe, 2017 und 2018. Das eine Mal entwendeten sie die Kasse mit dem Bargeld, das andere Mal beschädigten sie die Eingangstür und ließen dann ab. Dazu wurde mehrfach im Königspesel eingebrochen, dem Museum auf der Hanswarft. Postbote Hauke Ketelsen erinnert sich: „Es war ein ungutes Gefühl. Wir kannten das ja nicht. Ich dachte: Jetzt schließe ich meine Haustür ab.“

Die Ermittlungen zu den Kriminalfällen kamen nur schwer in die Gänge. Nach dem ersten Supermarkteinbruch dauerte es zum Beispiel zwei Tage, bis die Polizei eintraf. Nicht einmal Sherlock Holmes hätte da noch brauchbare Fingerabdrücke gefunden.

Aber, man muss es den nordfriesischen Ordnungshütern nachsehen. Der offiziell für Hooge zuständige Polizeibeamte sitzt auf Amrum und hat kein Polizeiboot. Er muss die reguläre Linienfähre nach Hooge nehmen, die nur einmal am Tag fährt und montags gar nicht. Ein ganzer Arbeitstag für ein paar verwischte Fingerabdrücke – ich kann verstehen, wenn die Polizei es am liebsten gleich sein lässt.

Nur einmal, da kamen sie gleich mit zwei Beamten. Der Freund einer Saisonarbeiterin hatte sich vor einiger Zeit auf der Ockenswarft das Leben genommen. Ein tragischer Fall.

Thorsten Junker, Hafenmeister auf Hooge, holte die zwei Beamten am Anleger ab. Die junge Polizistin nahm vorne Platz und schnallte sich an. Ebenso der Kollege hinten. Da sagte Junker zu den beiden: „Ihr könnt euch abschnallen. Ich rase nicht.“ Ein kurzes Zögern, ein Lächeln, dann klickten die beiden Beamten ihre Gurte weg. „Wir sind ja auf Hooge“, soll die Polizistin noch gesagt haben. So fuhren sie gemeinsam unangeschnallt zum Tatort. Ganz unpingelig. Adenauer hätte sich gefreut.

mare No. 135

No. 135August / September 2019

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

Mehr Informationen
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith