Mein Hooge, 4.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Heute will er wissen: Wie überlebt man hier als Cineast?

Kinoliebhabern kann ich nur abraten, nach Hooge zu ziehen. Die Hallig ist ein winziges kinoloses Stückchen Erde mitten in der Nordsee.

Obwohl, formell gesehen gibt es auf Hooge sogar eins, das Sturmflutkino auf der Hanswarft. Es zeigt seit 1991 den immer gleichen Sturmflutfilm. Einen 15-minütigen Zusammenschnitt von Land-unter-Szenen, gedreht in den 1980er-Jahren vom Hooger Bürger Thomas Diedrichsen. Außerdem existierte bis vor einiger Zeit ein Filmkreis auf der Kirchwarft. Gemeinsam schaute man sich Filmklassiker an und diskutierte anschließend darüber. Das Interesse der Hooger hielt sich allerdings in Grenzen, weshalb die Reihe wieder eingestellt wurde.

Bei meinem letzten Besuch auf Hooge wäre ich gern in das Land-unter-Kino gegangen. Doch das ging nicht. Das Kino hatte geschlossen. Es wird immer nur dann geöffnet, wenn fünf Leute reinwollen. Sobald die Fähre mit den Tagestouristen anlegt, rennt irgendeiner im Auftrag der Halligverwaltung zum Kino, schließt es auf und wartet auf Kundschaft. Ich stand auch vor dem Kino, als Einziger.

Also gut, stattdessen traf ich mich mit einem Hooger, der genau das getan hat, wovon ich abgeraten habe: sich als Cineast auf Hooge niederzulassen. Dirk Bienen-Scholt, Jahrgang 1980, zog im Juni 2015 von Kleve in Nordrhein-Westfalen nach Hallig Hooge – für einen Job bei der Halligverwaltung. Und die Anzahl seiner jährlichen Kinobesuche schrumpfte von 50 auf eins.

Vor seinem Umzug ging Bienen-Scholt jeden Sonntag mit seinen Kumpel ins Klever „Tichelpark Cinemas“. Sie schauten sich alles an, was das Klever Kinoprogramm so hergab. „Herr der Ringe“, „The Game“, „Matrix“, „Caligula“. Und natürlich „Star Wars“. Bienen-Scholt war der Meinung, dass die besten Filme in fernen Galaxien spielen.

Auch ich schaute mir einst alles an, was mein örtliches Multiplexkino in Köln zu bieten hatte. Später ermahnte mich meine Freundin, ich solle doch meinen Filmgeschmack überdenken. Das tat ich, und so wurde ich Dauergast in den Programmkinos der Stadt. Zu meiner Überraschung gefielen mir die Filme, die dort gezeigt wurden. Trotz Wackelkamera, Pixelbilder und langatmiger Erzählstränge. Erst als meine Tochter geboren wurde, schrumpfte meine jährliche Ins-Kino-Gehen-Frequenz von 50 auf eins wie bei Bienen-Scholt. Ich litt sehr darunter. Statt auf die Leinwand meines Lieblingskinos starrte ich nun stundenlang mein Baby an.

Bienen-Scholt sagt, das Kino vermisse er gar nicht, er habe ja jetzt die wunderschöne Natur. Das gleiche habe ich auch gesagt, als ich Vater wurde: Das Kino vermisse ich gar nicht, ich habe ja jetzt ein wunderschönes Baby. Ich stelle mir vor, wie Bienen-Scholt sonntags aus dem Fenster seiner Wohnung aufs grüne Halligidyll schaut und sich einredet, dieser Blick sei der viel bessere Film.

Solche Psychotricks sind zwecklos. Bei Cineasten ist es nämlich ähnlich wie bei Alkoholikern. Sie kommen von ihrer Sucht ein Leben lang nicht los. Sie sind nur trocken.

Erste Anzeichen für einen Rückfall kann man bei Bienen-Scholt bereits beobachten. Einmal im Jahr macht er sich nämlich auf, um doch wieder ins Kino zu gehen. Zusammen mit dem Postboten und dem Hafenmeister, seinen neuen Kinokumpel. Mit der Fähre fahren sie rüber aufs Festland. In Kiel checken sie in einem Hotel ein und gehen dann ins Multiplex. Es ist wie eine Reise in eine ferne Galaxie. Passenderweise gab es beim letzten Mal „Star Wars: Die letzten Jedi“.

Für die drei Männer ist es der Höhepunkt des Jahres. Ein cineastischer Exzess, der sich so anfühlt, als würden sie sich einmal im Jahr hemmungslos betrinken.

Am nächsten Morgen machen sie sich dann verkatert auf die Heimreise. Zurück nach Hallig Hooge, der wohl schönsten Entzugsklinik Deutschlands.

mare No. 134

No. 134Juni / Juli 2019

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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