Mein Hooge, 3.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Diesmal will er wissen: Wie ist das Leben ohne Arzt?

Auf Hallig Hooge möchte ich nicht krank werden. Das hat einen einfachen Grund: Es gibt hier keinen Arzt. Keine Notaufnahme. Keine Apotheke.

Höchstens einen leichten grippalen Infekt würde ich mir erlauben. Ich stelle mir das sogar ganz angenehm vor. Es gibt auf Hooge nämlich eine Krankenschwester im 24-Stunden-Bereitschaftsdienst (abwechselnd mit einem Kollegen). Läge ich mit Fieber im Bett, würde sie vorbeikommen und mir ein nicht verschreibungspflichtiges Medikament verabreichen. Wir würden plaudern. Und wenn ich freundlich fragte, würde sie mir bestimmt auch einen Tee kochen. Herrlich.

Problematisch wird es allerdings, wenn es sich um einen echten Notfall handelt. Denn dann hilft kein liebevoll zubereiteter Tee mehr.

Dann muss der Rettungshubschrauber kommen.

Es gibt drei, die bei Notfällen Hooge anfliegen. Die zwei roten Hubschrauber der DRF Luftrettung, „Christoph Europa 5“ und „Christoph 42“, sowie der gelbe „NHC 01“ von den Offshorewindparks. Binnen 15 Minuten können sie Hooge erreichen.

Leider klappt das nicht immer. Ich weiß das, weil mir der ehemalige Bürgermeister von Hooge, Matthias Piepgras, davon erzählt hat.

Piepgras, 63, ist auf der Hallig bekannt als rastloser Mann. Allein die Liste seiner Ämter, die er innehatte, löst Herzrasen aus: Bürgermeister von Hooge, Vorsteher des Amtes Pellworm, Kreistagsabgeordneter, Vorsitzender der Biosphäre Halligen, Vorsitzender des Tourismusausschusses, Mitglied im Bauausschuss, Vorstand des Hafenverbands, Zweckverbandsvorsitzender für die Daseinsvorsorge, Vorstandsmitglied der Insel- und Halligkonferenz, Zweiter Vorsitzender der AktivRegion Uthlande. Dazu hat er zwei Söhne, vier Telefone und fünf Ferienwohnungen auf Hooge.

Es war an einem Sonntagmorgen, als Piepgras dachte, er habe einen Herzinfarkt. Schmerzen in der linken Brust. Engegefühl. Angstschweiß. Jetzt muss alles schnell gehen, dachte er sich. Doch daraus wurde nichts. Der Rettungshubschrauber konnte nicht auf Hooge landen, wegen schlechter Sicht.

Stattdessen wurde der Seenotkreuzer angefordert. Der brauchte eine Stunde bis nach Hooge. Weil aber gerade Niedrigwasser war, kam das Schiff nicht von der Hallig weg. Später war der Zielhafen Dagebüll von drei Fähren blockiert. Endlich dort angelegt, bekamen die Helfer Piepgras nicht raus aus dem Schiff. Wegen des niedrigen Wassers war der Ausstieg zu steil. Deshalb rückte die Feuerwehr mit der Drehleiter an, um ihn aus dem Schiff zu hieven. Fünf Stunden hat es gedauert, bis Piepgras im Krankenhaus eintraf.

Am Ende war es doch kein Herzinfarkt, zum Glück, sondern eine „Entgleisung“, wie die Ärzte es formulierten. Piepgras: „Als ich die Diagnose hörte, habe ich denen gesagt: Entgleisung, das passt, dafür bin ich in Nordfriesland bekannt.“

Heute ist Piepgras längst wieder zurück in seiner Rolle als emsigster Hooger aller Zeiten. Ich aber bin ins Grübeln gekommen.

Ich habe mir überlegt, meine Erste-Hilfe-Kenntnisse aufzufrischen. Jeder, der Hooge besucht, sollte das tun. Meine letzte Herzdruckmassage an einer Puppe samt Mund-zu-Mund-Beatmung liegt 30 Jahre zurück. Und wie man einen Bewusstlosen in die stabile Seitenlage bringt, da müsste ich lange nachdenken. Entscheidende Minuten, die fehlen, wenn Herr Piepgras das nächste Mal entgleist.

Leider musste ich nun erfahren, dass meine Erste-Hilfe-Pläne ihm erst mal nichts nutzen werden. Piepgras ist an einer Form von Leukämie erkrankt. Er erzählte es mir, als ich ihn neulich zufällig auf der Fähre nach Hooge traf. „Das kannst du ruhig schreiben“, hat er gemeint. „Auf Hooge kann man sowieso keine Krankheit verheimlichen.“

Piepgras hat mittlerweile für sechs Monate Hallig Hooge verlassen – für die Chemotherapie in Kiel. Ich drücke ihm ganz fest die Daumen.

mare No. 133

No. 133April / Mai 2019

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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