Mein Hooge, 18.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Heute taucht er in die friesische Vergangenheit ein

Ich wundere mich immer wieder, womit sich Menschen in ihrer Freizeit so beschäftigen. 

Mein Vater zum Beispiel hat eine Obsession für Völker, die niemand kennt. Wenn er beim Abendessen das Tischgespräch an sich zieht, kann es schon mal sein, dass er aus dem Stand über die Lebensweisen der Burjaten, Tschuwaschen, Wepsen oder Zo’é referiert. Natürlich kann er auch Mainstream – die alten Griechen, Römer, Ägypter. Er weiß einfach alles.

Ich musste Papa einfach nur zuhören, um im Geschichte-Leistungskurs zu glänzen.

Seltsamerweise gibt es ein Volk, das er seit 78 Jahren ignoriert: die Nordfriesen. Nie waren sie Thema bei Tisch. Nie sah ich ihn ein Buch über sie lesen. Das hat dazu geführt, dass ich glaubte, die Nordfriesen seien nicht der Rede wert.

Heute bin ich anderer Meinung: Sie sind es sehr wohl. Sie verdienen es sogar, in Papas Repertoire aufgenommen zu werden – weil sie im Lauf der Geschichte immer dann zur Höchstform aufliefen, wenn die Lage besonders aussichtslos war. Mich beeindruckt so etwas.

Das beste Beispiel sind die Nordfriesen auf Hallig Hooge. Mehrere Male standen sie schon vor dem Nichts. Das erste Mal gleich zu Beginn. Als die Friesen im elften und zwölften Jahrhundert die Gegend um Hooge besiedelten – politischer Druck der Franken machte eine Auswanderung nötig –, fanden sie nämlich eine halbaquatische, zergliederte Marsch- und Moorlandschaft vor (die Halligen in ihrer heutigen Form entstanden erst später), mit vielen Prielen, Wasserläufen, unwegsam und feucht. Im Prinzip eine riesige Matschküche, in der es unmöglich war, auch nur eine einzige Gerste anzubauen.

In solch einer Umgebung wäre ich jämmerlich verhungert. 

Die Hooger Friesen aber wussten, was zu tun ist: Sie bauten Salz ab. Ein Produkt, das im Hochmittelalter unglaublich wertvoll war. Sie hatten entdeckt, dass sich unter der Marsch aufgrund der Überflutungen salzgesättigter Torf befand. Mit viel Mühe gruben sie diesen aus, trockneten und verbrannten ihn. Die Salztorfasche lösten sie dann in Wasser auf und siedeten sie aus. Fertig war das Salz, das wegen der Aschereste eine graue Farbe hatte. 

Zwar war das Hooger Salz nicht so hochwertig wie etwa das Salz der Lüneburger Saline. Doch der Nachfrage aus den Handelsstädten tat das keinen Abbruch – das graue Friesensalz wurde zum Verkaufsschlager. Von dem Geld gönnten sich die Hooger einige Annehmlichkeiten: schöne Keramik, gutes Metallgeschirr zum Kochen, Schwerter, Schmuck, edle Knöpfe für die Tracht. Überreste davon liegen bis heute im Watt.

Das zweite Mal vor dem Nichts standen die Hooger Friesen dann nach der verheerenden Sturmflut von 1362. Die sogenannte Grote Mandrenke forderte nicht nur Tausende Todesopfer, sondern gestaltete auch die nordfriesische Küste komplett um. Der Salzabbau kam damit fast völlig zum Erliegen. Vorbei war es mit dem Wohlstand.

Doch statt sich mit dem nun einfachen Bauernleben abzufinden, schafften es die Hooger Friesen erneut, gesellschaftlich und finanziell aufzusteigen. Diesmal als Seefahrer. 

Im 18. Jahrhundert waren Hooger Kapitäne die Stars der Branche. Niederländische Reeder benötigten für ihren boomenden Handel mit Asien auch ausländische Kapitäne – und engagierten bevorzugt Hooger Schiffsführer. Sie galten als verlässlich und navigationssicher. Manche von ihnen wurden superreich, weil sie Anteile an den niederländischen Schiffen besaßen. Ein Hooger Kapitän, Haye Laurens, schaffte es sogar in die Geschichtsbücher, weil er 1804 den späteren König von Frankreich aus dem Exil zu seinen Brüdern nach Kalmar in Schweden fuhr. Es war Hooges goldene Ära.

Als auch diese Zeit zu Ende ging, suchten sich die Hooger Friesen wieder etwas, das sie aus dem bäuerlichen Elend herausholte: den Tourismus. Heute besitzt fast jeder der 100 Bewohner ein, zwei oder drei Ferienwohnungen. Die meisten sind für die kommenden anderthalb Jahre bereits ausgebucht.

Ich wünschte, ich wäre so wie die Nordfriesen. Sie haben zwar keinen Aristoteles, keinen Cäsar und keinen Tutanchamun hervorgebracht. Dafür sind sie ein Volk voller Stehaufmännchen.

Also, lieber Papa, ist das alles nicht der Rede wert? Denk doch darüber nach, wenn du uns das nächste Mal die Welt erklärst.


mare No. 148

mare No. 148Oktober / November 2021

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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