Mein Hooge, 17.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Heute macht er sich Gedanken über die neue Pastorin

Ich habe nichts gegen Hermann Hesse. Aber sein Spruch „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ geht mir auf die Nerven. Nicht nur, weil er in jeder zweiten Geburtsanzeige zu lesen ist. Sondern auch, weil ich Hesses Meinung überhaupt nicht teile.

Ich finde Neuanfänge schrecklich.
Als ich damals die Schule wechselte, beschränkte sich das Interesse meiner neuen Mitschüler aufs Abschreiben meiner Hausaufgaben. Als ich neu auf die Uni kam, wurden alle um mich herum zu coolen Wohnheimpartys eingeladen, nur ich nicht. Und als neuer Hooge-Kolumnist fühlte ich mich wie ein Außerirdischer, der aus Versehen auf einer Hallig gelandet ist.
Wo, bitte schön, ist da der Zauber?

Seither empfinde ich stets ein gewisses Mitgefühl für jeden, der etwas Neues beginnt – so wie aktuell für die neue Pastorin auf Hallig Hooge. Hildegard Rugenstein, 62, ist erst seit Februar im Amt, musste aber bereits – das Schicksal wollte es so – vier Trauerfälle begleiten. Vier verstorbene Hooger innerhalb weniger Wochen, darunter ein Suizid. Schlimmer hätte Rugensteins Job nicht starten können.

Selbst in Zeiten mit durchschnittlicher Mortalitätsrate ist der Pastorenjob auf Hooge nicht ohne. Fünf Jahre lang wollte ihn niemand haben, weil es von allem zu wenig gibt: zu wenige Gottesdienstbesucher (Hooge hat nur 100 Einwohner), zu wenig Gemeindeleben, zu wenig Gehalt (halbe Stelle). Immerhin, das Salär wurde jetzt aufgestockt. Und auch alles andere soll mit Pastorin Rugenstein besser werden, ganz ähnlich wie mit Hansi Flick bei der deutschen Fußballnationalmannschaft.

Den Hoogern war die Kirche schon immer wichtig – obwohl sie lange Zeit nicht einmal eine besaßen. Bis Anfang des 17. Jahrhunderts verfügten sie lediglich über einen Prediger, der seine Gottesdienste in einem Haus auf der Hanswarft abhielt. Als 1622 endlich die Genehmigung für eine eigene Kirche kam, legten die Hooger Bauern eilig zusammen und kauften eine Warft. Nur: Das Geld für den Bau der Kirche selbst fehlte.

Da kam den Hoogern ein meteorologischer Zufall – oder war es göttliche Gewalt? – gerade recht. In der Nacht vom 11. auf den 12. Oktober 1634 wurde Nordfriesland nämlich von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht, die etliche Kirchen in der Region zerstörte, allein 18 auf Alt-Nordstrand. Zerstört hieß aber nicht, dass da nichts mehr war, im Gegenteil, Steine und Interieur der kaputten Kirchen waren nun billig zu haben. Die Hooger griffen zu und bastelten sich aus den Resten einer Kirche in Osterwold kostengünstig ihr langersehntes Gotteshaus. Auf ihre Secondhandkirche sind sie bis heute stolz.

Die Pastoren kamen ausnahmslos von außerhalb, aus Thüringen, Westfalen oder den Niederlanden, weil es keine Hooge-eigenen Geistlichen gab. Besonders in Erinnerung geblieben ist dabei Pastor Koch, der das Amt von 1839 bis 1847 ausübte. Er war der Meinung, dass die Hooger zu viel soffen, und soll, wenn Alkohol geliefert wurde, schon mal die Fässer zerschlagen haben. Unterstützung erfuhr er dabei vom Hooger Mäßigkeitsverein, einer Art Spießerclub, der ein alkoholfreies und gottesfürchtiges Leben propagierte.

Den Mäßigkeitsverein gibt es heute nicht mehr, und auch die Pastoren fielen in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr durch überbordendes Temperament auf, sondern eher durch liebevolle Spleens. Pastor Speck etwa war so segelbegeistert, dass er unter dem Talar schon das Ölzeug getragen haben soll, um gleich nach dem Gottesdienst in See stechen zu können. Pastor Heyde wiederum münzte die Psalmen auf Hooge um und veröffentlichte sie unter dem Titel „Denn du bist meine Warft – Halligpsalmen“.

Und Pastorin Rugenstein? An was wird man sich erinnern? Vielleicht an ihre spontane, ehrliche Begeisterung für die Hallig. „Ich habe im Fernsehen einen Beitrag über die freie Pastorenstelle auf Hooge gesehen – und es durchfuhr mich wirklich wie ein Blitz“, sagt sie. In einem Punkt führt sie die Tradition bereits fort: Sie kommt aus Potsdam, von außerhalb.
Ein einziger gebürtiger Hooger ist übrigens doch noch Pastor geworden: Melf Binge, Jahrgang 1937. Allerdings wollte der seinen Beruf partout nicht auf seiner Hallig ausüben. Er wagte lieber einen Neuanfang als Pastor in Schobüll, einem Badeort mit deichfreiem Blick auf die Nordsee, ganz zauberhaft. So gesehen hat Hesse also doch noch recht.

mare No. 147

mare No. 147August / September 2021

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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