Mein Hooge, 14.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Heute trifft er Hooges letzten Kapitän

Meine Töchter befinden sich gerade in ihrer „Bibi & Tina“-Phase. Für mich bedeutet das eine harte Zeit. Weil bei uns zu Hause die Soundtracks aller vier Verfilmungen von Detlev Buck in Dauerschleife laufen, werde ich unentwegt mit frühpubertären Lebensweisheiten belästigt.
Neulich zum Beispiel hieß es in einem Song: „Als ich noch klein war, war alles so einfach, alles so neu.“ Schon war ich abgelenkt. Ich erinnerte mich an die Zeit, als ich noch neu auf dieser Welt war. Ich, vielleicht fünf Jahre alt, lebte in Köln und war der festen Überzeugung: Am Meer sind die Menschen alle Kapitäne, in den Alpen alle Milchbauern und in Köln alle karnevalsverrückt. Alles ganz einfach.

In Wahrheit ist natürlich gar nichts einfach. Das lässt sich besonders gut an Hallig Hooge erkennen, diesem kleinen Fleck plattes Land mitten in der Nordsee. Niemand der rund 100 Hooger Bürger wohnt weiter als, sagen wir, 200 bis 300 Meter vom Meer entfernt. Gut zehnmal im Jahr wird die Hallig komplett überschwemmt. Mehr Nähe zum Meer geht nicht.
Und doch lebt auf Hooge – entgegen meiner kindlichen Theorie – nur ein einziger Kapitän, der auf Große Fahrt gegangen ist. Wie kann das sein? Das Kind in mir verlangte nach einer Antwort, und ich beschloss, diesen einen Kapitän aufzusuchen.

Wenige Tage später saß ich bei Werner Boyens, Jahrgang 1942, einem groß gewachsenen, humorvollen Mann, im Wohnzimmer auf der Hanswarft. „Also“, sagte ich, nachdem er mir das Du angeboten hatte, „wie kommt es, dass auf Hooge niemand Kapitän ist außer dir?“ Boyens’ Antwort war kurz und irgendwie einleuchtend: „Zu Hause bleiben ist halt bequemer.“

Dabei war Hallig Hooge bis Anfang des 19. Jahrhunderts berühmt für seine weltreisenden Handelskapitäne. Deren Fähigkeiten wurden besonders von niederländischen Reedern geschätzt. Hooger Kapitäne galten als zuverlässig, navigationssicher, und sie brachten für die langen Schiffsreisen nach Ostindien und Fernost ihre eigene Hooger Mannschaft mit, was für gute Stimmung an Bord sorgte. Anhand alter Dokumente konnte Hans Joachim Kühn, pensionierter Archäologe aus Hooge, die Existenz von mindestens 70 Hooger Kapitänen von Großseglern bis Anfang des 19. Jahrhunderts nachweisen.

Einer von ihnen schrieb sogar Geschichte. 1804 fuhr Kapitän Haye Laurens den Grafen von Provence, den späteren Bourbonenkönig Ludwig XVIII., aus dem Exil zu seinen Brüdern nach Schweden. Als Dank vermachte der dem Hooger Schiffsführer seine goldene Uhr, eine silberne Teekanne und Tassen. 14 Jahre später, der Graf war inzwischen König von Frankreich, zeigte dieser sich erneut erkenntlich: Er verlieh Laurens den Lilienorden und schenkte ihm 1000 Franc.

Es war Hooges goldene Zeit. Sie endete, als Mitte des 19. Jahrhunderts die Niederländer das Interesse an den Hoogern verloren; sie beschäftigten lieber ihre eigenen Kapitäne. Daraufhin gaben die meisten Hooger die Seefahrt auf und wurden wieder zu Bauern.

Am Ende blieb – abgesehen von einigen Kapitänen in der regionalen Küstenschifffahrt – nur noch Werner Boyens übrig. Der letzte Mann einer großen Hooger Kapitänstradition.
Boyens sagt: „Ich wollte schon immer wissen, was hinter dem Japsand [eine Sandbank westlich von Hallig Hooge, die Red.] war.“ Das hat er geschafft. Zunächst als Schiffsjunge, dann als Jungmann, Leichtmatrose, Matrose, Steuermann und schließlich als Kapitän. Er fuhr Fracht nach Beirut, Russland, Japan, Westafrika, China. Oft war er monatelang nicht zu Hause, dafür lernte er die Welt kennen.

Und das echte Leben. In einer Kneipe in Angola beobachtete Boyens, wie eine weiße Kellnerin einen Schwarzen ins Gesicht schlug, nur weil er auch in die Kneipe wollte. „Da dachte ich mir, da stimmt was nicht.“ In Russland betrank er sich mit sowjetischen Soldaten, die ihn und seine Crew eigentlich bewachen sollten. „Ich merkte, das sind auch nur Menschen.“ Seine Kapitänsjahre waren Jahre voller erstaunlicher Lebensweisheiten. So wie meine Homeoffice-Zeit die Zeit ständig neuer Bibi-Blocksberg-Weisheiten ist.

Als Werner Boyens um die 40 war, hörte er auf. Er wollte wieder mehr zu Hause sein. Malen, heiraten, zum Japsand wandern. Ist halt bequemer. Ich kann das gut verstehen.

mare No. 144

mare No. 144Februar / März 2021

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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