Mein Hooge, 10.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen. Heute will er wissen: Wie geht es den Hoogern in der Corona-Krise?

Es ist Montag, der 16. März, als Hallig Hooge für mich unerreichbar wird. Schleswig-Holstein riegelt an jenem Morgen um sechs Uhr die Hallig für Touristen ab. Wegen Corona. Ab sofort dürfen nur noch Anwohner mit erstem Wohnsitz dorthin.

Eine Eilmeldung jagt Mitte März die andere. Die Bundesländer machen Hals über Kopf Kitas und Schulen zu, Österreich stellt Ischgl unter Quarantäne, der Dax stürzt um zwölf Prozent ab. Als auch noch Polen und Dänemark als Erste ihre Grenzen nach Deutschland schließen, steigt in mir ein mulmiges Gefühl auf. Und doch: Die Sperrung Hooges nimmt mich fast am meisten mit.

Warum? Vielleicht, weil es sich so anfühlt, als würde man mir meine neue Freundin wegnehmen. Die Zeitschrift „Freundin“ unterteilte kürzlich eine Paarbeziehung in neun Phasen. Demnach befinden sich Hooge und ich derzeit in Phase zwei: „Das große Verständnis“. In dieser Phase lerne man sich immer besser kennen, heißt es. Die beiden Bindungshormone Oxytocin und Vasopressin sorgten dafür, dass in unserem Hirn die Idee heranreife, sich dauerhaft an die andere Person – in meinem Fall an die Hallig – zu binden.

Ja, Hooge und ich, das ist was Ernstes. Meine monatlichen Reisen zur Hallig gehören inzwischen fest zu meinem Leben. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich dort sein darf. Raus aus der Stadt, rein ins Nichts, in dieses platte, grün behaarte 100-Seelen-Fleckchen mitten in der Nordsee. Ich habe die Menschen dort schätzen gelernt, ich mag den Pragmatismus, den sie pflegen, aber auch ihre romantische Ader, diese Liebe zur See, zur Natur.

Nun, mitten in Phase zwei, brachte dieses verdammte Virus alles durcheinander: Lockdown in Deutschland, Ausgangsbeschränkung, Reiseverbot. Ich machte mir Sorgen um die Hallig – obwohl ich wusste, dass sie besser durch die Zeit der Isolation kommen würde als ich. Hooge befindet sich ja im Grunde ständig im Lockdown, etwa zehnmal im Jahr, immer wenn „Land unter“ ist. Niemand kann dann die Hallig betreten, niemand sie verlassen. Alles ist überflutet, bis auf die Warften. Die Nordsee erzwingt eine Ausgangssperre.

Die alten Hooger kennen sowieso noch ganz andere Zeiten. Den Krieg. Die harten Winter, als die Nordsee oft vereist war und wochenlang keine Fähren fuhren. Sie kennen das Leben ohne Strom (bis 1959) und ohne fließendes Wasser (bis 1968). Und jetzt soll ihnen Sars-CoV-2 etwas anhaben? Die meisten Alteingesessenen, so erzählte es mir Bürgermeisterin Katja Just kurz vor Ostern am Telefon, lasse die Corona-Krise völlig kalt.

Tatsächlich gibt es ja aus epidemiologischer Sicht kaum einen besseren Ort, eine Pandemie durchzustehen, als eine abgeschiedene Hallig, zu der niemand von außen Zutritt hat. Die Abstandsregeln lassen sich auf Hooge spielend einhalten – man begegnet beim Spaziergang sowieso fast niemandem. Und das Tragen einer Maske wird auf Hooge fast zum Vergnügen, weil sie nicht nur vor Viren, sondern bei aufdrehendem Wind vor der Kälte schützt.
Die Fähre hat schon Ende März einen Corona-Fahrplan aufgelegt und fährt nur noch an drei Tagen die Woche – dienstags, donnerstags und samstags. Trotzdem läuft die Versorgung problemlos. Der Hallig-Supermarkt sei, so Katja Just, immer ausreichend gefüllt, und Klopapier gebe es auch genug.

Eine Sorge ist dennoch ganz real. Weil keine Besucher mehr kommen, brechen die Einnahmen der Hooger ein. Nahezu jeder der 100 Einwohner lebt von der Vermietung seiner Ferienwohnung oder von der Gastronomie. In Spitzenzeiten kommen bis zu 1000 Tagesgäste auf die Hallig. Jetzt sind es null. „Für manche Hooger wird es kritisch“, sagte mir Dirk Bienen-Scholt von der Verwaltung. „Etliche Hooger dürften nicht genug Rücklagen haben.“ Das ist bitter. Ich hoffe, dass die staatlichen Corona-Soforthilfen das Schlimmste abwenden.
Und nun? Wie geht es jetzt weiter? Mit dem Virus? Mit dem Tourismus auf Hooge? Mit unserem Leben? Niemand weiß es.

Eins aber kann ich sagen. Meine Freundin Hooge und ich, wir werden irgendwann Phase drei („Die kleinen Stolperer“) erreichen, in der es laut „Freundin“ zu ersten Streitereien kommt. Die Macken des Partners treten zutage. Ich bin fast froh, dass diese Phase verschoben ist. Dann gehen wir uns erst später auf die Nerven.

mare No. 140

mare No. 140Juni / Juli 2020

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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