Mein Hooge, 1.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. In der ersten Folge trifft er jemanden, der auch neu ist

Ich bin der Neue hier. Hier, auf Hallig Hooge. Man erkennt mich an meinen schwarz-grauen Stadtklamotten. Ich friere schnell und kann kein Boot steuern. Ich weiß nichts über die Ringelgans, und habe noch nie eine Kuh gemolken. Ich bin derjenige, den man auf Hooge wirklich nicht gebrauchen kann.

Und doch werde ich über Hooge schreiben, in dieser neuen Kolumne. Der Grund liegt weit zurück in der Vergangenheit. Als Teenager verbrachte ich meine Herbstferien immer auf Hooge, Jugendfreizeit mit der Musikschule. Achtmal war ich dort: 1982, 1983, 1984, 1985, 1986, 1987, 1988 und 1989. Man kann also sagen, dass ich mit den Gegebenheiten auf der Hallig vertraut bin, mit diesem platten Grün, den Prielen, den aufgeschütteten Wohnhügeln, die sie Warften nennen; sogar ein „Land unter“ erlebte ich einmal mit. Von Hooge habe ich dennoch keine Ahnung.

Ich befand mich zwar physisch oft auf Hooge, mein Gehirn aber dachte nur an die Mädchen aus meiner Gruppe. Zwar ging ich auch mal spazieren, aber meist nur zum Hallig-Supermarkt, wo ich mir erst Gummibärchen und später meinen Alkohol kaufte. Und wenn ich mit Hoogern sprach, dann um meinen Schnaps im „Friesenpesel“ zu bestellen. Ich war ein verpickelter Heranwachsender und die Hallig nur die Kulisse meiner Pubertät.

Als ich volljährig wurde, entfernte ich die Kulisse aus meinem Leben – ohne jemals dahinter geschaut zu haben.

Jetzt möchte ich sie wieder aufbauen – und auch mal dahinter schauen. Heute, 30 Jahre später, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Hallig Hooge liegt in Deutschland, dem Land mit der viertgrößten Volkswirtschaft weltweit. Aber hier gibt es keinen Arzt. Kein Kino. Keine Apotheke. Kein Eltern-Kind-Café. Im Winter fährt die Fähre zum Festland manchmal tagelang nicht. Was macht das mit den Menschen?

Fragen wie diese gehen mir durch den Kopf. Ich habe keine Ahnung, was passiert, wenn ich sie stelle. Ich weiß nicht, ob die Hooger – es sind immerhin hundert – mich akzeptieren oder als Eindringling empfinden werden. Vielleicht finde ich bald gute Freunde. Oder sie jagen mich davon.

Aller Anfang ist schwer. Dies ist ein Satz, den der römische Dichter Ovid vor gut 2000 Jahren aufschrieb. Ich kann Ovid nur zustimmen. Allein neunmal war ich in meinem Leben der neue Praktikant. Jedes Mal fühlte ich mich wie ein Alien, der irrtümlich auf der Erde gelandet war. Ich habe daraus gelernt und eine Strategie entwickelt. Wenn du denkst, du stehst kurz vor dem sicheren Erstickungstod, dann such dir jemanden, dem es genauso ergeht. Dann kriegst du wieder Luft.

Ich habe auf Hooge so jemanden gefunden. Es ist Katja Just, 44. Auch sie ist eine Neue. Neu im Amt der Bürgermeisterin.

So sitzen wir nun hier, im Lesezimmer der Hanswarft. Staunend blicke ich die Bürgermeisterin an. Zu mir spricht nicht etwa eine Hooger Seebärin. Sondern ein blonder Engel in Fleecejacke. Eine Frau, die schon länger weiß, wie es ist, neu zu sein. Vor 18 Jahren nämlich wagte sie das Ungeheuerliche: Sie zog von München nach Hooge. Ihren Eltern zuliebe, die sich zwei Ferienwohnungen auf der Ockenswarft gekauft hatten.

„Es fühlte sich damals an wie Auswandern“, sagt sie. Eisern stemmte sie sich gegen den maximal möglichen innerdeutschen Kulturschock. Später schrieb sie sogar ein Buch darüber: „Barfuß auf dem Sommerdeich. Mein Halligleben zwischen Ebbe und Flut“.

Jetzt also wagt sie es wieder, die Neue zu sein. Erst wollte sie nicht. Dann aber doch. Der Gemeinderat wählte sie, die Bayerin, am 25. Juni 2018 zur Bürgermeisterin von Hooge. Der erfahrene Matthias Piepgras, der zehn Jahre im Amt war, wurde abgelöst.

Und, wie waren die ersten Wochen als neue Bürgermeisterin? „Furchtbar“, sagt sie. Es sei viel Arbeit, für die man nicht nur Lob bekomme. Die einen kritisieren, dass sie nicht mit Zahlen umgehen könne. Andere sagen, sie habe keine Ahnung von Verwaltung. Und die Opposition im Gemeinderat erklärte: „Wir sehen es als unsere Aufgabe an, deine Fehler aufzudecken.“ Das traf sie ganz besonders. „Ich finde, in einer kleinen Gemeinde wie Hooge sollte man miteinander arbeiten, nicht gegeneinander.“

Ich fühle mit ihr. Goethe hat mal gesagt: „Aller Anfang ist leicht.“ Wie konnte sich der Mann nur so irren.

Als wir uns verabschieden, lächelt Katja Just nicht mehr das Lächeln einer Amtsträgerin, die zum Interview empfängt. Sie lächelt das Lächeln einer Verbündeten. Frau Just und ich, wir sind zwei Aliens auf Hooge.

mare No. 131

No. 131Dezember 2018 / Januar 2019

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

Mehr Informationen
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith