Mehr Rum als Regen

Im karibischen Hinterhof kommt der Fisch nicht einfach aus dem Meer, sondern frisch aus Paris

Wenn die Sonne hoch über dem Glas steht und ihre Hitze den Rohrzucker im Rum ohne Umrühren um die Limettenrinde verteilt, stellt Bruno unterm Bastdach im „Coin des Pêcheurs“ den Fernseher an. Dann berichtet das Mittagsprogramm von Télé Martinique, was alle längst wissen: dass die Luft feucht und der Tag heiß bleiben werden.

Also bleibt Inspector Marc Matore kühl. In kurzen Hosen und Khakihemd mit Klappen im Kolonialstil hebt sich der gewichtige Polizeichef aus dem eisigen Innern seines klimatisierten Jeeps. Zeit für ein Glas abseits der Hektik menschenleerer Traumstrände und verschlafener Postkartenlädchen.

Das Fischerdorf Saint-Marie liegt im Nordosten Martiniques – was ein Fluch ist, weil sich die meisten Touristen lieber im Süden aufhalten. Die Insel liegt im französischen Teil der Antillen – was ein Segen ist, weil sich die Nachfahren stolzer Kariben und kriegerischer Orinoco-Indianer mit den letzten Besatzern arrangiert haben und seither über den französischen Mindestlohn, umgerechnet 1500 Mark, und das soziale Netz, Mindestsatz etwa 1000 Mark, verfügen.

Zeit also für ein Glas. Matore nimmt Platz. Schulkinder in ihren indigofarbenen Hemdchen holen sich das Mittagessen in Tuppertöpfen. Im angrenzenden Innenhof klatschen zahnlose Marktfrauen die letzten Makrelen von ihren Ständen in Kisten, bevor auch sie sich unter lautem Palaver an Brunos Theke niederlassen.

Für kupferne Kasserollen reicht im karibischen Hinterhof das Geld nicht. Ehrlicher Schweiß rinnt Bruno von der Stirn, während der 110-Kilo-Hüne mittels geschmirgelter Zaunlatten in schmurgelnden Bottichen walkt. Im Hof grillt seine Frau Fische auf einer Doppelreihe alter Autofelgen.

Es ist nicht leicht, die Meute jeden Mittag satt zu kriegen. Auf den Tellern türmen sich Truthähne in schwarzen, Doraden in gelben und Krabben in roten Saucen. Dazu gibt es weiße, rote und schwarze Bohnen, Linsen, Brotfruchtgemüse sowie den Rohstoff der Insel: weißen Rum, braunen Rum, jungen Rum, alten Rum. Matore und die Fischer sitzen bereits beim Vierten, und auf Télé Martinique schickt Derrick seinen „Arrie“ raus, den Wagen zu holen.

Über 50 altehrwürdige und eine ungeklärte Anzahl schwarze Brennereien gibt es auf Martinique – was ein wirtschaftlicher Segen ist. Aber vier Fünftel der Gesamtproduktion konsumiert die Blumeninsel selbst – was ein Fluch ist, weil in einem gewöhnlichen Jahr auf jeden Einwohner mehr Rum als Niederschlag entfällt.

So bildet der Rum auch einen elementaren Bestandteil von Brunos Speisen. „Coq au Rhum“, „Tournedos au Rhum brun et Poivre vert“, „Ragoût aux Crevettes et Rhum à la Caraïbe“. Bruno ist der Himmel nicht auf den Kopf gefallen.

Dabei hatte er die Dorfrestauration erst vor wenigen Jahren von seinem Vater geerbt, der dem hochprozentigen Ingredienzium früh erlegen war – Rum plus Hitze gleich Hirnschlag. Davor war Bruno Fischer gewesen. Und weil auch der Strand und die farbenfrohen Nachen der Fischer keine fünf Meter von der Hütte entfernt liegen, möchte man annehmen, dass sich Brunos Fische heute morgen noch in der silbrigen Bucht tummelten. Und das ist ein Fehler.

„Nein, mein Herr. Meine Fische kommen nicht einfach aus dem Meer. Meine Fische kommen frisch aus Paris.“ Bruno verschränkt die fleischigen Arme vor der Brust.
„Und die Zunft? Was soll die denn dazu sagen? Es ist eine Schande, mein Herr“, grummelt ein Fischer an Matores Tisch.
„Weißt du, was die mich kann, die Zunft? In Paris kostet das Kilo 30 Francs. Euer Fisch kostet 60 Francs. Ihr habt eben überfischt ...“
„Nein, mein Herr, nein, mein Herr!“ Der Mann ist aufgestanden und hat eine drohende Haltung eingenommen.

Bruno bekommt einen dunkelroten Kopf. Auf Télé Martinique suchen Derrick und sein „Arrie“ jetzt einen Tatverdächtigen in München-Haidhausen auf. Die Marketenderinnen beeilen sich, ihre Makrelenkisten wegzuschleppen und das Wurffeld zu räumen.

„Preistreiber!“
„Kollaborateur!“
„Dynamitfischer!“
„ ...!“

Wo haben wir das bloß schon mal so ähnlich gelesen? Richtig, da war doch dieses kleine, streitsüchtige Dorf in Aremorica, wo Asterix und Obelix den Römern das Leben schwer machten und ihre Freunde sich mit Fischen beschmissen. Und dort soll die Ware ja auch nicht immer die frischeste gewesen sein.


Karibisches Crevetten-Rum-Ragout

Zutaten für etwa 30 Personen

4 Kilo Crevetten (ungeschält, aus Paris), 500 g Zwiebeln, 500 g gewürfelte Tomaten, 2 Knoblauchzehen, 2 Lorbeerblätter, 1 Zweig Nelkenblätter, 300 g rote Pimentbutter, 1 dl Rotwein, 1 dl Weißwein, 8 cl brauner Rum, 200 ml Tomatenmark (28 %), Speiseöl, Pfeffer, Salz, Maggi

Zubereitung

Zwiebeln in Öl glasig schwenken. Tomatenwürfel, Knoblauch, Gewürze zugeben, etwa 15 Minuten köcheln lassen. Pfeffer, Salz, Maggi, Tomatenmark zugeben, etwas Wasser oder Fischfond aufgießen. Ohne Deckel kochen lassen, bis die Flüssigkeit etwas eingedickt ist. Die ungeschälten Crevetten, Weißwein, Rotwein und Rum zugeben. Auf kleiner Flamme fünf Minuten ziehen lassen. Dazu werden Brot, Weißwein und Ti-Punch (2 cl brauner Rum, 1 cl Wasser, 1 Teelöffel Rohrzucker, Limettenrinde) gereicht.


Restaurant „Au Coin des Pêcheurs“ 

Blvd. Desire Jox, F-97230 Sainte-Marie, Martinique

mare No. 18

No. 18Februar / März 2000

Von Helmut Kuhn und Boris Klinge

Helmut Kuhn wurde 1962 geboren. Er studierte in Berlin und Paris und schrieb aus New York für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, die Neue Zürcher Zeitung und Penthouse. Er lebt heute in Berlin und arbeitet als freier Journalist unter anderen für Focus und Stern.

Boris Klinge studierte Design und visuelle Kommunikation, arbeitete als Journalist und Fotograf und hat sich seit 2003 mit einer Werbegentur auf Pflegemarketing spezialisiert. Er lebt in Berlin.

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Vita Helmut Kuhn wurde 1962 geboren. Er studierte in Berlin und Paris und schrieb aus New York für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, die Neue Zürcher Zeitung und Penthouse. Er lebt heute in Berlin und arbeitet als freier Journalist unter anderen für Focus und Stern.

Boris Klinge studierte Design und visuelle Kommunikation, arbeitete als Journalist und Fotograf und hat sich seit 2003 mit einer Werbegentur auf Pflegemarketing spezialisiert. Er lebt in Berlin.
Person Von Helmut Kuhn und Boris Klinge
Vita Helmut Kuhn wurde 1962 geboren. Er studierte in Berlin und Paris und schrieb aus New York für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, die Neue Zürcher Zeitung und Penthouse. Er lebt heute in Berlin und arbeitet als freier Journalist unter anderen für Focus und Stern.

Boris Klinge studierte Design und visuelle Kommunikation, arbeitete als Journalist und Fotograf und hat sich seit 2003 mit einer Werbegentur auf Pflegemarketing spezialisiert. Er lebt in Berlin.
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