Meeresleuchten

Die Wasserwelten des Jugendstil

Für das sich dem Ende zuneigende 19. Jahrhundert wird das Wasser, die Urmaterie ohne feste Form, zu einer der wichtigsten Metaphern. Der Bereich des Wassers, der auf eine im Mythischen begründete Kulturgeschichte zurückblicken kann, wird in Musik, Lyrik, Erzählung und Märchen, in der freien und angewandten Kunst um 1900 zum allgegenwärtigen bildhaften Zeichen einer verborgenen, abgründigen Gegenwelt, die sich als bunt, geheimnisvoll, schillernd oder dämonisch darstellen kann.

Die künstlerische Beschäftigung mit dem Wasser im Jugendstil unterscheidet sich thematisch und inhaltlich von vorhergehenden Kunstepochen. So wurde in der Marinemalerei der Holländer des 17. Jahrhunderts der dramatische Effekt gern in den Vordergrund gestellt – Unwetter und Stürme spielen eine große Rolle. Oder der Schiffbruch wird bildhaft als Metapher für die existenzielle Gefährdung des Menschen verwendet, ein Motiv, das beispielhaft in der Malerei des frühen 19. Jahrhunderts, bei Gericault, William Turner oder Caspar David Friedrich dargestellt wird. In der Kunst der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts zeigt sich erstmals ein Rückzug in artifizielle Unterwasserwelten.

Ähnlich den epochalen Entdeckungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts – die archäologischen Ausgrabungen Heinrich Schliemanns von Mykene und Troja, die Begründung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud, die Nordpolexpeditionen und Urwalddurchquerungen – verkörperten die belebten Wassertiefen einen unbekannten Kosmos, dessen vorzeitliche Vielfalt bisher im Verborgenen geblieben war. Der Zeitgeist des Fin de siècle ergab sich tranceartig der Urmaterie: Das Wasser konnte Stille, Vergessen, Zurückkehren und Zurücksehnen vorzivilisatorischer Zustände bedeuten oder aber in seiner dunklen Unergründlichkeit als Spiegelbild der eigenen Psyche dienen.

Sándor Ferenczi (1873–1933), ungarischer Nervenarzt und einer der ersten Anhänger Sigmund Freuds, prägte den Begriff der „thalassalen Regression“ (von thalatta, griech. Meer) und deutete die Sintflutsage um. Die erste große Gefahr, so Ferenczi, war für die Lebewesen, die ursprünglich alle Wasserbewohner waren, nicht das Überflutetwerden, sondern die Eintrocknung. Das Auftauchen des Berges Ararat aus den Fluten wäre demnach nicht nur die Rettung, sondern die eigentliche Katastrophe gewesen.

Zu der mentalen Bereitschaft, sich in die tiefen Wasserwelten sinken zu lassen, kam auch die wissenschaftliche Erforschung der Meere, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Der Zoologe und Naturphilosoph Ernst Haeckel (1834–1919) geht in seinem 1870 veröffentlichten Vortrag „Das Leben in den größten Meerestiefen“ auf die interessante Geschichte der modernen Meeresforschung ein, die 1857 mit der Verlegung des ersten Transatlantikkabels begann. Mit großen Schleppnetzen bargen die Wissenschaftler Lebewesen, die man als ausgestorben betrachtet hatte. Die Populationen niederer, bisher unbekannter Organismen beschäftigte die Evolutionstheorie und stellte zudem ein Faszinosum an Formen und Farben dar. Erkenntnisse, die zudem erst mit Hilfe der modernen Mikroskope sichtbar wurden, die um 1870 von dem Physiker Ernst Abbé entwickelt worden waren.

Haeckel, der mit seinem 1899 erschienenen Buch „Kunstformen der Natur“ wesentlich zur Popularisierung jener unbekannten Wasserwelten beitrug, sah seine Publikation ganz bewusst als Anregung für Kunst und Kunstgewerbe der Zeit, wie er im Vorwort betont.

In der symbolistischen Kunst des Jugendstils spielte der Bereich des Wassers motivgeschichtlich eine große Rolle. Er wurde zum Synonym für unbewusste, verborgene Schichten der menschlichen Psyche, für die der Vernunft nicht zugänglichen Triebkräfte. Art Nouveau und Symbolismus entstanden zudem zeitgleich mit dem Beginn der Psychoanalyse. Traumdeutung und Tiefenforschung des Unbewussten entsprachen oftmals in assoziativen Bildern Motiven, die dem Bereich des Ursprünglichen, Vor-zivilisatorischen, dem Unergründlichen der Meerestiefe entstammten.

Für den Jugendstil mit seiner Vorliebe für schwerelose, gleitende Linien und entmaterialisierte Körper, die dekorativ-ästhetisch in einem bewegten Liniengefüge erscheinen, wurde das Wasser, in Kombination mit der ihm eigenen Population, den Kleinlebewesen, Fischen und Wasserpflanzen, zum dekorativen Bildträger einer verschlüsselten Botschaft. Die Wasserwelten dienten als maskierte Sinnbilder erotischer Sehnsüchte und Wünsche. Ins Schleppnetz der Träume gerieten Sirenen und Nymphen ebenso wie kapitale Fische. Quallen waren dekorativ und gefährlich zugleich, die abstrakten Formen der Algen und des Tangs eigneten sich als graphische Bilder für die unbekannten Tiefen, und das uralte Liebessymbol der Muschel findet sich als Kunstobjekt, Form- und Dekorelement.

Besonders die angewandte Kunst, die um 1900 eine wesentliche Rolle innerhalb der Selbstinszenierung des täglichen Lebens spielt, nimmt in unterschiedlichen Materialbereichen Dekore und Formen auf, die ihre Motive aus den vielfältigen Lebensformen des Wassers beziehen.

Ungewöhnliche plastische Dekore in Form von Fischen, Krabben, Krebsen, Muscheln, Quallen, Medusen, Fröschen, Schlangen, Polypen, Tintenfischen als dekorativer Schmuck auf Dosen, Tellern, Vasen, Leuchtern lassen vermuten, dass mit solchen Tieren, die im allgemeinen Verständnis oftmals mit Aversionen, manchmal sogar mit hysterischen Angstreaktionen bedacht werden, sich jene Faszination der Tiefe und jenes Ausloten des Unbewussten äußern, die bestimmend für die letzte Dekade dieses Jahrhunderts waren. Eine dekorative Unterwasserlandschaft mit Korallen, Tang und Seesternen wird als abstrahierendes, graphisches Dekor auf einem Teppich dargestellt, den Otto Eckmann 1898 entwarf. Eckmann, einer der wichtigsten deutschen Künstler des Jugendstils, begeistert von der japanischen Kunst und „modern“ in seinen Motiven und Bildfindungen, entsprach mit dieser Thematik genau dem Geschmack der Zeit.

Die bildnerisch-künstlerische Umsetzung dieser Stimmung zeigt sich in unterschiedlichsten Formen. Irisierendes Glas, das den Perlmutteffekt der Muscheln nachahmt, verbunden mit farbigen, wellenartigen Dekoren brachte der böhmischen Glasfabrik Joh. Loetz um 1900 weltweiten Erfolg.

Die fast sensationelle Wirkung der lüstrierten Gläser ließ sich mit der Empfänglichkeit des Fin de siècle für verschwimmende Gedanken- und Gefühlswelten in Verbindung bringen. Durch entsprechenden Lichteinfall entstand ein immaterielles Leuchten der Farben und des Lüsters, das als ästhetisches Widerspiel jenes „natürlichen Hangs zum Künstlichen“ der Zeit gelten kann, so der symbolistische Romancier Joris Karl Huysmans. „Muschelgefäße, von unten auf mit seetangartigen Gewächsen aus lichtrothem Glase umflochten, deren Wurzelstock den Fuß bildet“, gehören zu den ersten Objekten der Jugendstilproduktion von Loetz. Bei diesen angeblichen Ziermuscheln handelt es sich allerdings um Schneckengehäuse, und die durchgängige Bezeichnung als Muschel läßt auf Camouflage der tradierten sexuellen Symbolik schließen. Fast unverschlüsselt kann man diese Tendenz aus den hymnischen Zeilen des belgischen Jugendstilkünstlers Henry van de Velde heraushören, der in seiner Schrift „Amo“ bekennt: „Ich liebe die Muscheln, – die großen Seemuscheln, die sich mächtig bäumen, um ihre Spirale in eine einem Munde gleichende gähnende Öffnung zurückzuwerfen, jene Muscheln, deren enthüllter Perlmutterkörper verwirrend wirkt wie Orchideen.“


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mare No. 8

No. 8Juni / Juli 1998

Von Ingeborg Becker und Heike Ollertz

Ingeborg Becker, promovierte Kunsthistorikerin, arbeitet seit 1985 am Bröhan-Museum, Landesmuseum für Jugendstil, Art déco und Funktionalismus, in Berlin. Schwerpunkt ihrer Arbeiten sind Kunst und Kunstsoziologie der Jahrhundertwende und des Jugendstils.

mare-Fotografin Heike Ollertz lebt und arbeitet in Berlin.

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Vita Ingeborg Becker, promovierte Kunsthistorikerin, arbeitet seit 1985 am Bröhan-Museum, Landesmuseum für Jugendstil, Art déco und Funktionalismus, in Berlin. Schwerpunkt ihrer Arbeiten sind Kunst und Kunstsoziologie der Jahrhundertwende und des Jugendstils.

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Vita Ingeborg Becker, promovierte Kunsthistorikerin, arbeitet seit 1985 am Bröhan-Museum, Landesmuseum für Jugendstil, Art déco und Funktionalismus, in Berlin. Schwerpunkt ihrer Arbeiten sind Kunst und Kunstsoziologie der Jahrhundertwende und des Jugendstils.

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