Meeresjäger am Ende der Welt

Die Tschuktschen in Ostsibirien sind von Moskau vergessen. Ihre Hauptnahrungsmittel sind wieder Robben und Wale

Sooft ich in eine Küstensiedlung von Tschukotka komme, gehe ich zuallererst ans Meeresufer. Hier beginnen die Jagdpfade meiner Landsleute, das Revier der Meeresjäger. Am Strand von Lorino treffe ich heute niemanden. Alle Jäger sind an der Küste vor dem benachbarten Akkan zur Walross-jagd. Nur in der Ferne, an der Mündung der Lorinka, sehe ich ein Häuschen auf Kufen, aus dessen Blechschornstein Rauch aufsteigt. Vor diesem Häuschen sitzt ein Mann von undefinierbarem Alter, der sich schon sehr lange nicht mehr rasiert hat. Er beobachtet aufmerksam die Schwimmer seines Stellnetzes. Wir stellen uns einander vor.

Kuttegin fragt: „Dann bist du es, der mit dem amerikanischen Fotografen angereist ist?“ Als ich bejahe, fragt er: „Wann kaufen uns denn nun die Amerikaner?“

„Wieso kaufen?“, gebe ich verwundert zurück. „Na, so wie sie vor hundert Jahren Alaska von Russland gekauft haben. Wie es heißt, leben unsere Verwandten dort viel besser als wir! Aus meinem Dorf sind viele drüben gewesen, die erzählen das.“

„Tschukotka gehört untrennbar zu Russland“, behaupte ich, aber mein Gesprächspartner protestiert sofort: „Wenn wir zu Russland gehören – wieso lassen uns dann die Russen im Stich? Warum zahlen sie uns schon seit drei Jahren keinen Lohn, warum haben sie den Kindergarten zugemacht, warum liefern sie keine Lebensmittel mehr – nur Wodka? Geht man so mit Landsleuten um? Man erzählt sich, die Amerikaner würden uns kaufen, nur ohne die Russen. Stimmt das?“

Kuttegin lädt mich in sein Kufen-Häuschen ein und bewirtet mich mit dünnem Tee ohne Zucker. „Mir fehlt das Geld für Tee und Zucker. Wenn ich Fische fange, verkaufe ich sie den Russen. Dann kann ich wieder Zucker kaufen.“ Ich gebe Kuttegin etwas Geld. Spätabends sehe ich ihn wieder – betrunken. Tee und Zucker hat er offenkundig nicht gekauft.

Kuttegin gehört zu denen, die das neue Russland nicht mehr braucht. Der wirtschaftliche Verfall hat ihn sein Arbeits-leben gekostet. So geht es heute vielen Menschen in meiner Heimat. Manche versuchen noch, sich an das Leben zu klammern, das die Russen nach Tschukotka gebracht haben. Vergeblich.

Andere jedoch erinnern sich daran, dass unsere Vorfahren diese rauen Küsten lange vor der Ankunft der „weißen Menschen“ bewohnbar gemacht haben. Früher ernährten sich die Tschuktschen von der Jagd. Walrosse, Seehunde, Robben und Wale waren für die Menschen der Arktis schon immer die wichtigsten Lieferanten von tierischem Eiweiß. Die Natur hat den Menschen mit Nahrung versorgt, die es ihm möglich macht, auch grimmigen Frost und physische und psychische Belastungen zu ertragen, die sich Menschen aus einem wärmeren Klima überhaupt nicht vorstellen können.

Die Jagd hat das Leben der Ureinwohner der Tschuktschen-Halbinsel geprägt. Archäologische Funde belegen, dass meine Landsleute schon seit drei Jahrtausenden Wale und Walrosse erlegen und für die Jagd auf die großen Meeressäuger die Schwenkharpune erfunden haben, die sie – mit kleinen Veränderungen – auch heute noch benutzen.

Nach alten Legenden betrachten sich die Meeresjäger als Nachkommen von Rëu – dem Wal, der einst aus Liebe zu einer Frau am Strand von Tschukotka das Meer verließ und zum Menschen wurde. Die Walgründe im Meerbusen von Metschigmenski, wo viele Tausend Walfamilien ihre Jungen aufzogen, und auch die Meerenge zwischen der Insel Ittigran und dem Festland galten deshalb lange Zeit als heilig. Und Wale wurden nur in großem Abstand vom Ufer gejagt.

In Lorino befand sich zu Sowjetzeiten die Zentralwirtschaft der Genossenschaft und später des nach Lenin benannten Staatsgutes. Das Sowchos besaß die größte Rentierherde im Kreis, rund 20000 Tiere. Heute sind davon ganze 4000 übrig. „Unsere einzige Hoffnung ist das Meer“, sagt mir der Jäger Inenkewjew. „Meeresjäger ist in den küstennahen Dörfern der Tschuktschen-Halbinsel inzwischen wieder der wichtigste Beruf geworden.“

Menschen wie dieser Inenkewjew werden mein Volk vor dem Abgrund retten, an dessen Rand es die bolschewistischen sozialen Experimente und der jahrelang offen geförderte Alkoholismus geführt haben. Auf dem Weg in mein heimatliches Uelen habe ich zum Glück etliche willensstarke Menschen getroffen, die sich gegen die Bürokratie, die sich hier auch noch mit einer unglaublichen Gesetzlosigkeit vermählt hat, auf dem Grund und Boden ihres Volkes durchzusetzen versuchen.


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mare No. 22

No. 22Oktober / November 2000

Von Juri Rytchëu und Russell Liebman

Juri Rytchëu, Jahrgang 1930, ist der erste tschuktschische Schriftsteller. Seine Romane – darunter Traum im Polarnebel (1968), Wenn die Wale fortziehen (1975), Teryky (1980), Die Suche nach der letzten Zahl (1984) und Unna (1992) – erscheinen seit 1993 in deutscher Übersetzung im Unionsverlag Zürich. Rytchëu lebt heute in St. Petersburg. Leonhard Kossuth hat diesen Reisebericht aus dem Russischen übersetzt

Russell Liebman, 1966 in New York geboren, ist freier Fotograf und lebt in Berlin. Er war die treibende Kraft hinter der Geschichte über die Meeresjäger. Wochenlang wohnte er in den traditionellen Jarangas der Tschuktschen und lebte wie seine Gastgeber von Seehundfleisch. Für mare fotografierte er zuletzt die Salz-Kurorte am Toten Meer (in Heft 19)

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Vita Juri Rytchëu, Jahrgang 1930, ist der erste tschuktschische Schriftsteller. Seine Romane – darunter Traum im Polarnebel (1968), Wenn die Wale fortziehen (1975), Teryky (1980), Die Suche nach der letzten Zahl (1984) und Unna (1992) – erscheinen seit 1993 in deutscher Übersetzung im Unionsverlag Zürich. Rytchëu lebt heute in St. Petersburg. Leonhard Kossuth hat diesen Reisebericht aus dem Russischen übersetzt

Russell Liebman, 1966 in New York geboren, ist freier Fotograf und lebt in Berlin. Er war die treibende Kraft hinter der Geschichte über die Meeresjäger. Wochenlang wohnte er in den traditionellen Jarangas der Tschuktschen und lebte wie seine Gastgeber von Seehundfleisch. Für mare fotografierte er zuletzt die Salz-Kurorte am Toten Meer (in Heft 19)
Person Von Juri Rytchëu und Russell Liebman
Vita Juri Rytchëu, Jahrgang 1930, ist der erste tschuktschische Schriftsteller. Seine Romane – darunter Traum im Polarnebel (1968), Wenn die Wale fortziehen (1975), Teryky (1980), Die Suche nach der letzten Zahl (1984) und Unna (1992) – erscheinen seit 1993 in deutscher Übersetzung im Unionsverlag Zürich. Rytchëu lebt heute in St. Petersburg. Leonhard Kossuth hat diesen Reisebericht aus dem Russischen übersetzt

Russell Liebman, 1966 in New York geboren, ist freier Fotograf und lebt in Berlin. Er war die treibende Kraft hinter der Geschichte über die Meeresjäger. Wochenlang wohnte er in den traditionellen Jarangas der Tschuktschen und lebte wie seine Gastgeber von Seehundfleisch. Für mare fotografierte er zuletzt die Salz-Kurorte am Toten Meer (in Heft 19)
Person Von Juri Rytchëu und Russell Liebman