Stählerne Hölle Chittagong
Tomasz Gudzowatys Bildband über eine Abwrackwerft zeigt eine Arbeitswelt, die aus europäischer Sicht beinahe historisch erscheint
Arbeit auf einer Abwrackwerft, das ist die Hölle. Eine Hölle, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend nach Indien, Pakistan, Bangladesch und China verlagert hat. Hier werden die Schiffe verschrottet, die zuvor auf den Weltmeeren fuhren. Doch ist „Werft“ eigentlich ganz unzutreffend. Die Schiffe werden vielmehr am Strand zerlegt, wie etwa in Chittagong in Bangladesch.
Die Arbeitsbedingungen ohne technische Hilfsmittel sind katastrophal, die Löhne ein Hohn. Mit bloßer Hand zerlegen die Menschen die Kolosse, bis zu über 90 Stunden in der Woche, zumeist ohne jeden Arbeitsschutz. Tödliche Unfälle sind täglicher Teil des Geschäfts internationaler Reedereien, die ihre Schiffe an Broker verkaufen, die in Entwicklungsländern verschrotten lassen. Schadstoffbelastungen durch Asbest, Schwermetalle, Öle und andere Gifte für Mensch und Natur sowie Kinderarbeit sind Faktoren des wirtschaftlichen Kalküls.
Chittagong im Südosten Bangladeschs, eine Stadt von zwei Millionen Einwohnern am Golf von Bengalen, ist solch ein Ort. Eine Hölle der Globalisierung, die Tomasz Gudzowaty jetzt fotografisch ausgeleuchtet hat. Wie etwa auch der Südafrikaner Pieter Hugo (mit seinen Fotografien afrikanischer Elektroschrottplätze) bearbeitet Gudzowaty das Thema auf virtuose, kunstvolle Weise. Nicht reine Dokumentation ist sein
Ansatz, sondern eher die kunstvolle Interpretation.
Wir blättern durch das frisch erschienene Buch, sehen barfüßige Arbeiter am Strand, sehen sie mit Hammer und Meißel schuften, zwischen Feuer und Rauch mit dem Schweißbrenner hantieren, riesige Metallplatten schleppen: eine Knochenarbeit für umgerchnet zwei Dollar am Tag. Zumeist verarmte Bauern zerlegen hier Schiffe wie die „Keiko“, die dem Buch den Titel gab – der 1971 in Warschau geborene Fotograf zeigt sie in kargem, grobkörnigem Schwarz-Weiß bei ihrer Arbeit.
Es ist das Phänomen der Arbeit als Herausforderung an den Körper, das Gudzowaty interessiert. Er zeigt einen Kampf, den Kampf mit dem Material. Dennoch wird der Arbeiter nicht als Sieger vom Feld gehen. Im Gegenteil: Ganz gleich, wie hart dieser den Hammer schwingt, die Schiffswand ist stärker – und eine Verbesserung der Verhältnisse nicht in Sicht.
Beinahe historisch wirken diese Bilder, doch zeigen sie eine Arbeitswelt, die nur scheinbar untergegangen ist. Das ist die Kehrseite von smarten Arbeitsverhältnissen, ihre blutige Kehrseite. Bilder, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen, aus einer Zeit, in der der Mensch klein wirkt – im Vergleich zu der kolossalen Arbeit, die auf ihn wartet.
Diese Fotografien sind ein ästhetischer Genuss, und sie stehen doch in der Tradition einer politischen, engagierten Arbeiterfotografie, in der Tradition etwa von Jacob August Riis, Lewis Hine, Dorothea Lange oder Walker Evans. Es sind die starken Kontraste, die diese Fotografie auszeichnen. Die harten Kontraste des Schwarz-Weiß, die Schatten, die so bedrohlich auf die kaum geschützten Körper der Menschen fallen. Viele Arbeiter sterben alljährlich beim Abwracken. Der Härte dieses packenden Fotobuchs entspricht die Lebenswirklichkeit der Gezeigten. Marc Peschke
Tomasz Gudzowaty: „Keiko“, Text von Witold Szablowski, Hatje Cantz, Ostfildern, 2013,
148 Seiten, 45 Euro
Dalmatische Elegien
Der große ungarische Intellektuelle François Fejtö entführt uns auf eine Reise in die Anfänge des 20. Jahrhunderts
„Jetzt – einige Stunden sind vergangen – erscheint es mir schon lächerlich und kindisch, aber ich schreibe es trotzdem auf: Ich war ergriffen, als ich einen schmalen Saum des Meeres erblickte!“ Ein junger ungarischer Intellektueller reist ins kroatische Zagreb und danach an die dalmatische Küste. Gerade ist Ferenc Fischl nach fast einjähriger Haft wegen „marxistischer Umtriebe“ freigekommen, hat geheiratet und begibt sich allein auf eine Suche nach seiner Vergangenheit und Zukunft. Vielleicht kann man von dem aus einer jüdischen Familie stammenden späteren François Fejtö sagen, dass diese Reise fast ein Jahrhundert lang währte, denn als der mit zahlreichen Ehrungen Ausgezeichnete 2008 als naturalisierter Franzose starb, hatte er die Schrecken dieses Jahrhunderts nicht nur überstanden, sondern in vielen Büchern und Artikeln festgehalten. In diesem frühen Tagebuch, das wie eine Zeitkapsel die heutigen Leser erreicht, zeigen sich die frühen schriftstellerischen Anfänge des Historikers unverstellt.
Der junge Autor ist trotz seines politischen Rebellentums tief in der mitteleuropäischen bürgerlichen Welt seiner Familie verwoben. Wunderbar lesen sich die Geschichten über die Geschwister, Tanten und Cousins, denen er in großer Liebe zugetan ist. Die städtischen Alltagsroutinen dieser Menschen nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Ungarn und Kroatien, Istrien und Italien atmen noch unübersehbar die Vergangenheit des habsburgischen Reiches. Mehrere Sprachen stehen fast allen wie selbstverständlich zur Verfügung. Aber eine kleine Episode, wie die Stalkergeschichte der kapriziösen Schauspielerin Kiki, lässt die Abgründe dieser Gesellschaft mit ihren Spitzenuntersetzern, tiefen Plüschsesseln und frivolen Sonntagsausflügen erahnen. In den elegisch-intensiven Tagen in Zagreb nehmen sich Fejtös Anbetung der beseelten Dinge, des unvergesslichen Essens und die Evokation der Stimmungen aus wie eine Initiation in das zukünftige Leben des „asketischen Feinschmeckers“. Das vielschichtige Wahrnehmen dieser Zagreber Welt bedeutet dem jungen Reisenden immer auch ein Schreiben – über seine Notizenmanie reflektiert er mit Leichtigkeit und Tiefe zugleich.
Nach dem Aufenthalt in Zagreb wird die Fahrt entlang der dalmatischen Küste zum Höhepunkt dieser schaukelnd-reflektierenden Selbstfindung, die ohne die Landschaft des Mittelmeers nicht vorstellbar ist. „An den Felsen der kleinen Bucht, die sich zwischen die Häuser gedrängt hat, zerschellt das Wasser zu Gischt, wie silbergraue Spitze, seinem Rauschen höre ich begierig und andächtig zu. Es dürfte acht Uhr sein, irgendwo donnert eine Kanone, und in derselben Minute gehen ringsum die Lichter an. Wie schön deine Häuser sind, Ragusa!“ Das Leben am Meer bietet den Hintergrund seiner Überlegungen über die besten Lebensformen und das angenehmste Dasein – Utopie und Sehnsucht zugleich.
In der preisgekrönten Übersetzung von Agnes Relle, die noch mit Fejtö selbst das Buch um einen historischen Bildanhang erweitern konnte, atmen die Sätze wie Wellen harmonisch und rhythmisch dem Leser entgegen: eine wunderbare Wiederentdeckung eines großen Autors. Markus Bauer
François Fejtö: „Reise nach Gestern“,Matthes & Seitz Berlin,
Berlin, 2013, 351 Seiten mit Abbildungen, 29,90 Euro
Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 97. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.
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