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Ein Fluss wird zum Ozean
Die Fotografin Sylvie Leblanc hat den Sankt-Lorenz-Strom in den Fokus genommen und schürft mit immer gleichem Blick nach Tiefe

„Man sagt, bevor er das Meer erreicht, zittert der Fluss vor Angst“, heißt es in einem Gedicht des libanesisch-amerikanischen Schriftstellers Khalil Gibran (1883–1931). Etwas weniger dramatisch und spekulativ lässt sich sagen, dass allein der Gezeiten wegen in einem Ästuar einiges an Bewegung ist. Wie faszinierend die Welt dieser breiten Wasserkörper im Mündungsgebiet eines Flusses sein kann, zeigt die kanadische Fotografin Sylvie Leblanc in ihren „H2O-scapes“, die im Winter 2023 erstmals im Kölner Showroom der international renommierten Fotografieexpertin Simone Klein gezeigt wurden und nun in einer Auswahl von 57 Fotos aus 23 Serien als Buch vorliegen.

Die 1959 geborene Autodidaktin Leblanc, die zuvor als Kuratorin an kanadischen Museen tätig war und sich privat bei der deutschen Fotografin Bettina Secker ausbilden lassen hat, dokumentiert mit diesem Projekt einerseits mit geradezu wissenschaftlicher Akribie das Leben eines langen, aber keinesfalls ruhigen Flusses, wie es sich ihr an ihrem Heimatort in La Malbaie am Nord­ufer des mächtigen Sankt-Lorenz-Stroms darbietet. Ihn nahm sie 2009 und 2023 immer wieder von derselben Kameraposition auf dem Grundstück ihres Elternhauses auf und schuf so eine beeindruckende Werkgruppe, die trotz ihrer kühlen technischen Präzision andererseits auch poetisch anmutende Qualitäten beweist. 

Das Zusammenspiel der Elemente manifestiert sich dabei in immer wieder neuen, manchmal nur minimal veränderten Farbschattierungen. Ihre subtilen Eigenheiten zu entdecken fordert vom Betrachter, die eigene Wahrnehmung für einen Moment neu zu kalibrieren: Einfach einmal innezuhalten und sich auf nahezu meditative Weise dem scheinbar Vertrauten neu zu nähern, das ist eine Ein­ladung zur Entschleunigung, die in diesem Zeitalter der absoluten Reiz­über­flutung schon nahezu widerständigen Charakter hat.

In einem lesenswerten Essay gewährt Leblanc einen Einblick in ihre Praxis, der sowohl theoretische Aspekte intellektuell gut nachvollziehbar als auch das konkrete Erleben vor Ort sinnlich erfahrbar macht. Sie wird angezogen von den „flüchtigen, unfassbaren Formen des Nebels“, dessen Magie sie so beschreibt: „Das Licht bewirkt, dass sich ein Ort komplett ver­ändert. So erscheinen und verschwinden unter den Nebelbänken, die sich bilden und verformen, die Inseln von Kamou­raska; Nebelhörner erschallen aus dem Nichts; Rumpfschiffe tauchen manchmal kurz auf wie Geisterboote; Belugas, Zwergwale, Finnwale, Robben, Basstölpel, Kormorane, Eiderenten, die sich im Wasser tümmeln, bleiben selbst für das geübte Auge unsichtbar. Unsere Umwelt ist plötzlich ohne Orientierungspunkte. Aber seltsamerweise kommt gerade dann, wenn fast alles von Nebel eingehüllt ist, die Kraft des Ortes zum Ausdruck.“

Deutlich wird sowohl im Werk als auch im begleitenden Text, wie sehr ihr Anliegen die bloße Landschaftsfotografie überschreitet. An dieser immer in Bewegung befindlichen „Landschaft aus Wassermolekülen in verschiedenen Aggregatzuständen“ interessiert sie der fließende Wechsel, den man als Sinnbild für das Leben begreifen darf: „Mehr Atmosphäre als Form, mehr Leere als Materie. Ich fühle mich direkt eingetaucht in die Vergänglichkeit, dieses Gesetz der Verwandlung der Welt, diese fortwährende Metamorphose, die sich vor unseren Augen vollzieht.“ Panta rhei, alles fließt. 

Dieser Tatsache stellt sich nach einiger Reflexion über den zurückgelegten Weg auch der von Khalil Gibran beschriebene verängs­tig­te Fluss, dessen Befürchtung es war, für immer im Ozean zu verschwinden. Doch: „Der Fluss muss riskieren, in den Ozean zu fließen, denn 
nur dann verschwindet seine Angst. Dort wird der Fluss erfahren, dass es nicht ­darum geht, im Ozean zu verschwinden, sondern der Ozean selbst zu werden.“ Gunnar Lützow

Sylvie Leblanc: „H2O-scapes“,Deutsch/Englisch, Kerber, Bielefeld, 2023, 88 Seiten, 38 Euro


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 164. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 164

mare No. 164Juni / Juli 2024

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