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Abtauchen im perfekten Moment
Ben Thouard stellt Surffotografie auf den Kopf. In seiner Wahlheimat Tahiti betrachtet er die Wasseroberfläche am liebsten von unten


Surffotografie, das ist allzu oft ein durchtrainierter Mann auf einem Board im waghalsigen Tanz auf dem Ozean. Gischt sprüht durch die Luft – der Surfer hebt ab. In diesem Moment drückt der Fotograf den Auslöser. Wir sehen Welle und Surfer. Volle Aktion, im Zentrum der Aufmerksamkeit stets der Mensch, der das Element für einen kurzen magischen Moment unterwirft.

Ein ganz anderes Konzept verfolgt der französische Fotograf Ben Thouard, der seit einigen Jahren auf Tahiti lebt. Nicht so sehr das Reiten der wilden Wellen ist Thouards Thema, seine schönsten Bilder zeigen die Surfer von unten. „An manchen Tagen ist das Wasser in Tahiti so klar, dass du einfach aus der Tiefe fotografieren musst“, sagt Thouard. Dann gelingen ihm Fotografien, die das Genre auf künstlerisch ungewöhnliche Weise erweitern: Surfer sind nur noch gelegentlich zu sehen. Im Fokus steht die Materie, das Wasser selbst. Und dieses zeigt sich auf den Fotografien Thouards auf ganz unterschiedliche Weise. Es ist still, undurchdringlich, wirkt starr, glatt, dann formt es wieder bizarre Wasserskulpturen. Wellen werden fotografisch eingefroren, in genau jenem Moment, bevor sie brechen. Die Surfer sind nur Randfiguren in diesem Spiel der Wellen und des Wassers, dunkle, anonyme Schatten. Es sind grandiose Bilder in diesem Buch. Die besten davon sind unter der Wasseroberfläche entstanden. „Wenn du untertauchst und die Surfer über dich hinweggleiten, bist du plötzlich in einer ganz anderen Welt“, so Thouard. Und diese andere Welt aus klarem, in so vielen Farben schimmerndem Wasser, aus Luftblasen, Sonne und Schatten hat beinahe balsamische Kräfte. Schon beim Betrachten der Bilder fühlt man sich Seite um Seite mehr erfrischt.

Thouards Fotokunst ist nicht ganz ungefährlich – unter ihm scharfkantige Korallenriffe, über ihm die Surfer mit ihren spitzen Boards und schneidenden Finnen. Der Fotograf selbst arbeitet in der Wucht der Wellen. Doch es lohnt sich: Thouard zieht den Betrachter mit seinen Bildern direkt ins Geschehen, direkt ins Meer. Beim Blättern in „Surface“ taucht man immer tiefer ein. So etwas ist eher selten: ein Naturfotobuch nicht nur für Surffanatiker, sondern für alle, die das Meer und die Wellen um ihrer selbst lieben. Marc Peschke

Ben Thouard: „Surface“, Text in Englisch/Französisch, mit mehr als 120 Fotos, Tahiti, 2018, 184 Seiten, 65 Euro, zu beziehen über www.benthouard.com


Das Leben ist ein Wellenritt
William Finnegan, langjähriger Redakteur des „New Yorker“, seziert seine Surfleidenschaft mit dem scharfen Blick des versierten Reporters

Als der 13-jährige William Finnegan mit seiner Familie von Kalifornien nach Hawaii zieht, ist er ein Außenseiter. Er fühlt sich leer – bis das Meer beginnt, seinen „seelischen Hohlraum“ zu füllen. Eine Obsession nimmt ihren Lauf. Das Surfen hört auf, Sport für ihn zu sein, und wird ihm zur philosophischen Lebensgrundlage, zum Ziel allen Handelns. Finnegans Memoiren erzählen von der Macht des Meeres, der Sehnsucht, die es nährt, und dem Leichtsinn, es bezwingen zu wollen.

Der Politikjournalist William Finnegan ist seit gut 30 Jahren Redakteur des Magazins „The New Yorker“. Er hätte durchaus auch andere aufwühlende Details aus seinem Leben zu berichten – unter anderem war er Kriegsreporter. Seine Autobiografie jedoch, für die er in den USA 2016 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, klammert diese Tatsache größtenteils aus und beschäftigt sich stattdessen mit der bedeutendsten Leidenschaft seines Lebens. Im packenden, aber sachlichen Ton einer Reportage erzählt Finnegan von über 50 Jahren des Surfens an den schönsten und wildesten Stränden in Nordamerika, Australien, Asien und Afrika.

Durch seine Nüchternheit und beobachtende Distanz gelingt es Finnegan, sich selbst als Getriebenen, als Gefahrensucher zu entlarven. „Wellen waren besser als Bücher, besser als Kino, sogar besser als eine Achterbahnfahrt in Disneyland, denn ihre Gefährlichkeit war nicht künstlich erzeugt. Sie war echt.“ Doch es ist keine kopflose, blinde Leidenschaft, die seinen Tanz mit dem Ozean antreibt. Wie nebenbei schafft Finnegan Verständnis für die überraschend gut durchdachten Wagnisse des Surfens. „Die Hauptbeschäftigung eines Surfers an seinem Homebreak besteht im genauen, akribischen Studium eines kleinen Küstenabschnitts, jedes Strudels und Winkels bis hin zu einzelnen Steinen, jeder möglichen Kombination aus Gezeiten, Wind und Swell.“ Die Fachbegriffe der Surfersprache sind so bildlich, dass sie unerklärt bleiben können, ein Glossar im Anhang muss reichen, bestimmt der Autor. Er lässt damit, besonders für die Laien unter seinen Lesern, eine Art natürlicher Poesie zu. Welle und Surfbrett werden zu Körpern, haben Lippe, Face, Nose und Tail.

Darüber hinaus ist Finnegans Autobiografie weit mehr als das mitreißende Protokoll eines fünf Jahrzehnte andauernden Abenteuers. „Barbarentage“ erzählt auch das Leben eines präzisen Beobachters gesellschaftlicher Entwicklungen. Der Autor beschreibt das langsame Verschwinden der körperlichen Brutalität in der Kindererziehung in den USA in den 1960er- und 1970er-Jahren ebenso eindringlich, wie er später über die politischen Entwicklungen in Polynesien berichtet. Und dann gibt es da noch sein Leben als Familienvater und Ehemann. All das, zugegeben, unter dem Diktat der Gezeiten.

Übersetzerin Tanja Handels hat schon Romane von Zadie Smith ins Deutsche übertragen; bei diesem Buch stand ihr Jens Steffenhagen, Chefredakteur des Surfmagazins „Blue“, beratend zur Seite. Wohl auch deswegen fühlt sich der Leser, als gleite er über die Zeilen wie auf einer Welle dahin. Yvonne Franke

William Finnegan: „Barbarentage“ aus dem Amerikanischen von Tanja Handels, Suhrkamp, Berlin, 2018, 566 Seiten, 18 Euro

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 131. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 130

Oktober / November 2018

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