Fluchttendenzen und Bilderflut
Alkoholismus, Krankheit, postnatale Depression: Für die Filmheldinnen der Berlinale gab es gute Gründe, mal aufs Meer zu schauen
Es gab so viele (notwendige) politische Diskussionen im Nachgang der diesjährigen Berlinale, dass die Filme darüber fast vergessen wurden. Und es könnte einem so vorkommen, als sei es in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, kein Zufall, dass die Meeresnähe einiger Werke gleichzeitig ein Fluchtpunkt für deren Protagonistinnen war. Zum Sich-Wegträumen allerdings gab es keine Gelegenheit. Die, die auf den Leinwänden der Berlinale-Kinos am Meer ankamen, hatten ihre traurigen Gründe.
Rona (Saoirse Ronan) ist die alkoholkranke Heldin des neuen Films „The Outrun“ der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt und Alter Ego der schottischen Autorin Amy Liptrot, die ein viel beachtetes Buch über ihren Weg aus der Sucht geschrieben hat. Liptrot wuchs auf den Orkneyinseln auf, verlor sich in London und kehrte nach zehn Jahren in die Heimat zurück, um in selbst gewählter Einsamkeit trocken zu werden. Ihre Erzählung ist Selbstreflexion und Naturbeobachtung zugleich, und so ist auch Ronas mächtiger Gegenpart im Film die Landschaft der Orkneys und das wütende Meer, das sie umgibt. Fingscheidt, die mit „Systemsprenger“ vor fünf Jahren auf dem Festival ihren ersten Spielfilmerfolg feierte, findet großartige Bilder für diesen existenziellen Kampf, rekonstruiert rauschhafte Gefühle in der Großstadt ohne Voyeurismus und seufzende Dramatik, stemmt sich mit Rona gegen den Wind und die verkorkste Kindheit und ist dabei so nah an all ihren Figuren, dass man auch einen bipolaren Vater und eine überreligiöse Mutter zu verstehen lernt.
Dort, wo es der landläufigen Meinung nach nichts zu verstehen gibt, weil die Normalität etwas anderes verlangt, beginnt der Film „Le Paradis de Diane“ des schweizerischen Regieduos Carmen Jaquier und Jan Gassmann. Diane (Dorothée de Koon) bringt in Zürich ein Kind zur Welt, der glückliche Vater (Roland Bonjour) ist dabei, alles scheint richtig zu sein. Kurz darauf flieht sie aus der Klinik, lässt beide zurück und fährt mit einem Bus nach Benidorm. Die touristische Vorhölle am Mittelmeer wird ihr zur traumwandlerischen Zuflucht vor einer Mutterrolle, die sie nicht erfüllen kann. Dianes Weg aus der Verdrängung ist ein tastender, taumelnder, wie sie sich selbst in ihrer Wahrnehmung fremd ist, das überträgt der Film in all seiner Sperrigkeit spürbar. Diane findet Rose (Aurore Clément), eine vornehme, leicht desorientierte alte Dame, verbündet sich mit ihr in ihrer Einsamkeit. Durch das Panorama von Rose’ Wohnung im 30. Stock wirken die Lichter der Stadt wie eine Verheißung, und das Meer strahlt, als gäbe es kein Morgen.
Denn wenn das, was noch kommen kann, Angst macht, beruhigen Wellen manchmal das Gemüt. „Quell’estate con Irène“, ein italienischer Film von Carlo Sironi, erzählt in flirrenden Bildern von einem Sommerurlaub unter schlimmen Vorzeichen. Clara (Maria Camilla Brandenburg) und Irène (Noée Abita), beide 17, lernen sich in einem Ferienlager für rekonvaleszente Jugendliche kennen. Die Krankheit folgt ihnen auf Schritt und Tritt, jeder Sonnenbrand ist eine Gefahr, jede Untersuchung potenzielle Zerstörerin von Hoffnung und erkämpftem Glück. Das wollen sie sich nicht bieten lassen, sie wollen leichtherzige Teenager sein und hauen ab auf eine Insel, machen Ferien von Vergangenheit und Zukunft, lernen Jungs kennen und das freie Leben. Und doch ist es vor allem die zarte Inszenierung der Verbindung dieser ungleichen Mädchen, die den Film trägt und noch lange leise nachhallen lässt.
Wenn Menschen sich finden auf der Leinwand, hat das Kino oft seine besten Momente, weil es den Glauben nährt, dass eben das gelingen kann. Lia (Mzia Arabuli) und Achi (Lucas Kankava) sind ein ungleiches Duo. Sie Lehrerin im Ruhestand, er heranwachsender Hallodri, beide Bürger eines Landes, Georgien, in dem die Unsicherheit regiert. Im Film „Crossing“ des schwedisch-georgischen Regisseurs Levan Akin gehen die beiden als Schicksalsgemeinschaft auf die Reise.
Lia will ihre verschwundene Nichte, die Transfrau Tekla, in Istanbul suchen, Achi, ein Nachbarsjunge, gibt vor, deren Aufenthaltsort zu kennen, und hängt sich an ihre Fersen, um der heimischen Enge zu entfliehen. Wie die beiden gemeinsam dem lebhaften Chaos und den Widersprüchen der Stadt am Bosporus begegnen und sich dabei gegenseitig ziemlich auf die Nerven gehen, ist so anrührend wie mitreißend erzählt. Natürlich wachsen
sie daran, Lia, die stolze Leidende, die glaubt, das Beste in ihrem Leben hinter sich zu haben, und Achi, der in Istanbul eine bessere Zukunft wittert. Wie alle wissen sie: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Martina Wimmer
74. Internationale Filmfestspiele Berlin, 15. bis 25. Februar 2024, www.berlinale.de
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