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In die Tiefen der Geschichte 
Versunkene Orte, abgestürzte Flugzeuge, Wracks am Ostseegrund: Zwei Bildbände erkunden die Zeitkapseln menschlicher Katastrophen

Im Jahr 2007 ging die Schlagzeile um die Welt: „Vier Leichen an Bord gefunden. Erneut Geisterschiff vor Japan aufgetaucht.“ Einmal mehr der Einbruch des ­Unheimlichen in unsere Welt. Geisterschiffe sind ein prominentes Thema der Kunst und Populärkultur. Sei es „Der fliegende Holländer“ von Richard Wagner, die „Fluch der Karibik“-Filme oder die Literatur von Sir Arthur Conan Doyle, Edgar ­Allan Poe oder B. Traven – seit Jahrhunderten erzählt man sich schaurige Geschichten von verschollenen Schiffen.


Der Bildband „Geisterschiffe“ des Fotografen Jonas Dahm und des Historikers Carl Douglas sucht nach solchen Geschichten auf dem Grund der Ostsee und begibt sich dafür in eine fremde, grünlich-milchig schimmernde Welt, in der fast 100 000 Wracks liegen, deren Erhaltungszustand oft erstaunlich gut ist. Das Buch zeigt Wracks vom 16. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg – „Zeitkapseln“ nennen die Autoren sie. Die Ostsee ist ein Eldorado für Taucher, die auf dem kalten Meeresgrund nach Wracks forschen, wie der Unterwasserfotograf Jonas Dahm einer ist. Die Vielzahl der Wracks, so im Vorwort zu lesen, geht auf den Seehandel und die Auswanderung, aber auch auf militärische Konflikte zurück: Viele der in dem Buch vorgestellten gesunkenen Schiffe wurden bei Seeschlachten versenkt, andere fielen dem Meer und seinen Gefahren durch Stürme und Untiefen zum Opfer.


Der gute Erhaltungszustand mancher Wracks hat mit der Kälte des Meers und seinem geringen Salzgehalt zu tun, was dazu führt, dass sich die Schiffsbohrmuschel hier nicht wohlfühlt. Die Holzbohrer und -raspler kommen in der Ostsee kaum vor, und so bleiben die Wracks unversehrt. Die Bildwirkung ist irritierend. Zugleich brutal, morbide und somnambul wirken die von den Taucherlampen illuminierten Schiffe.


Ein Wrack zu finden ist ein Glücksfall. 400-mal ist es den beiden Tauchern bisher gelungen, in Tiefen bis zu 110 Metern. Die Zuordnung und Identifizierung ist schwierig, weil Jonas Dahm und Carl Douglas ihre Prinzipen haben: „Wir öffnen keine Türen und schieben nichts beiseite, um den Mikrokosmos unter Wasser nicht zu stören. Deswegen müssen wir akzeptieren, dass wir manche Fragen mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, nicht beantworten können.“

Neben den Fotografien beinhaltet der Band ausführliche Beschreibungen der verschiedenen gezeigten Wracks und ist auch ein Dokument einer besonderen Freundschaft. 23 Jahre tauchen Carl Doug­las und Jonas Dahm bereits zusammen von ihrem Tauchschiff „Triad“ aus, bei dem sie sich im Nachwort freundlichst bedanken. „Du hast uns aufs Meer hinausgetragen und uns beschützt. Du hast Wache ­gehalten, während wir unter Wasser waren, und du hast uns aufgenommen, wenn wir müde und glücklich wieder auftauchten […] Du hast uns Glück gebracht.“

Wer sich für das Thema interessiert, dem sei noch ein weiterer morbider XXL-Band ans Herz gelegt, „Im Reich der ­Stille“ von Reisejournalist Linus Geschke und Unterwasserfotograf Tobias Friedrich. Er zeigt geheimnisvolle Orte unter Wasser, Friedhöfe, abgestürzte Flugzeuge, Schiffswracks und versunkene Siedlungen, fotografiert rund um den ganzen Erdball vom Eismeer bis zur Südsee, vom Roten Meer bis in die Karibik. Und er erzählt deren Geschichten nicht, ohne sich der Besonderheit der fotografierten Objekte bewusst zu sein, wie Fotograf Friedrich schreibt: „In nicht wenigen dieser Wracks sind Menschen gestorben, einige sind sogar Kriegsgräber, und so ist der Respekt bei diesen Tauchgängen der ständige Begleiter des Fotografen. Nur wer weiß, was zu dem Untergang geführt hat, kann ein Wrack entsprechend in Szene setzen und dessen oftmals tragische Geschichte für die Nachwelt bewahren.“ Marc Peschke

Jonas Dahm, Carl Douglas: „Geisterschiffe. Eine Reise zu den Wracks der Ostsee“, aus dem Schwedischen von Lisa Arnold, Malik, München, 2022, 272 Seiten, 45 Euro

Tobias Friedrich, Linus Geschke: „Im Reich der Stille. Geheimnisvolle Orte unter Wasser“, 
Frederking & Thaler, München, 2022, 288 Seiten, 118 Euro

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 156. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

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mare No. 156Februar / März 2023

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