Der Tiefgang eines fremden Lebens
Ein Koffer mit Familienfotos schickte die Fotografin Sara Macel auf eine Reise ans Meer. Und natürlich spielt dabei die Liebe eine Rolle
Im Sunshine State Florida gibt es auch ein Hollywood. Ganz im Südosten der Vereinigten Staaten, nahe Fort Lauderdale und Miami. 1921 erst wurde der Ort von Joseph Wesley Young gegründet, als „Hollywood by the Sea“. In der 150 000-Einwohner-Stadt gibt es nicht viel zu sehen. Allenfalls das historische Joseph Wesley Young House lädt zu einem Besuch ein. Die meisten anderen Gebäude sind neueren Datums – 1926 wurde die Stadt von einem Hurrikan zerstört. Touristen kommen nach Hollywood, Florida, um Strandurlaub zu machen. Der „Oceanfront Walk“ ist gepflegt. Die Stadt bezieht ihre ganze Bedeutung durch ihre Lage am Ozean. Hollywood aber ist ein sehr besonderer Ort für die New Yorker Fotokünstlerin Sara Macel: ein Ort, in dem ein künstlerisches Projekt seinen Ursprung findet, zu dem nun ein Fotobuch erschienen ist.
Der Begriff der „Fotoarchäologie“ war vor 20, 30 Jahren in der Fotokunst mehr en vogue als heute, doch in der Tat: Hier hat man es mit einem fotoarchäologischen Vorhaben zu tun. Dessen Ausgangspunkt ist ein Koffer mit Fotografien, den Macel 2014 im Nachlass ihrer verstorbenen Großmutter Carolyn entdeckte. Schlägt man das Buch auf, so ist dieser Koffer gleich auf der ersten Seite zu sehen. Er liegt auf einem Bett – offen, bereit, seinen Inhalt mit dem Betrachtenden zu teilen.
Einige Seiten später ist man am Strand. Zwei Frauen sitzen auf einer Decke, lächeln. Augenscheinlich sind es Mutter und Tochter. Oder Schwestern? Sara Macel taucht mit ihrem Buch in ihre Familiengeschichte ein, die sich in Teilen in Hollywood, Florida, abgespielt hat. Die Schwarz-Weiß-Bilder der Großmutter mischt sie mit Bildern, die ihre Mutter in den 1970ern in Hollywood gemacht hat – und mit Fotografien, die Sara Macel selbst hier aufnahm: von der Landschaft, vom Meer, von ihrer Mutter und von sich selbst.
Es sind nicht so sehr die einzelnen Fotografien, die faszinieren, sondern der zeitübergreifende Sog der vielen Bilder aus den verschiedenen Zeiten. Auf einem Polaroid eine Frau unter einer Palme, dann ein Schwarz-Weiß-Panorama Hollywoods mit Blick auf das Meer. Im Hintergrund kräuseln sich die Wellen. Spuren im Sand, die Mutter der Künstlerin hinter einem Vorhang, im Hintergrund das Meer. Dann eine ganz ähnliche Szene, Dekaden zuvor fotografiert.
Die neuen Bilder von Sara Macel, aufgenommen mit einer Mittelformatkamera, sind bisweilen von bestechender Schlichtheit: etwa jenes Foto, das ein Auto an der Strandpromenade zeigt. Es ist ein grauer Tag – es muss vor Kurzem geregnet haben. Die Palmen spiegeln sich in einer Pfütze. Neben der neuen Ansicht des „Hollywood Beach Theatre“ springt einen das Schwarz-Weiß-Foto eines Strandfests in den 1940ern an. Hier tanzte die wilde Jugend unter einer Palme. Drei Frauen erfrischen sich bei einer Coke. Eine davon trägt, glamourös, eine Sonnenbrille. Im Hintergrund der Strand.
Wer möchte, kann tiefer vordringen in diese Familiengeschichte. Das Faksimile eines Briefs aus dem Jahr 1944 ist abgedruckt, daneben das Porträt eines blonden jungen Manns, der mit bloßem Oberkörper gezeigt wird – gerade aus dem Meer kommend. Eine Liebesgeschichte? Wer mag, darf versuchen, die Schrift zu entziffern. In einem kurzen Vorwort deutet die 1981 geborene Sara Macel an, dass ihre Großmutter vor ihrer Ehe und Mutterschaft ein anderes Leben in Hollywood hatte – und dort vielleicht auch eine Beziehung zu einem jungen Priester, der später zu einem Freund der Familie wurde. Ein junges Leben, über das sie nicht sprach, das nun aber in alten Fotografien vor einem liegt. Ein Blick in ein fremdes Leben, das doch immer ein Rätsel bleibt, wie Macel selbst schreibt. „Die ganze Geschichte kenne ich nicht“, weiß sie. „Der große Rest wird das Geheimnis der Großmutter und des Meeres bleiben.“
„What Did the Deep Sea Say“, benannt nach einem Song von Woody Guthrie, ist ein kleines, aber wirkmächtiges Fotobuch, weil es an die Kraft des fotografischen Mediums erinnert. Das, was wir hier sehen, war so. Die bekannten Zeilen von Duane Michals kommen in den Sinn, der 1974 eine seiner schönsten Fotografien mit den Worten unterzeichnete: „This photograph is my proof. There was that afternoon, when things were still good between us, and she embraced me, and we were so happy. It had happend, she did love me.“
Die Macht der Fotografie steckt noch immer, bis heute, in ihrer direkten Verbindung zur Realität. Kommt dann noch das Geheimnis dazu, wie in diesem Buch, erwachsen Fragen und Spekulationen, Unsicherheiten und Verunklärungen aus einem Bild, umso besser. Woody Guthrie erzählt in seinem Song von der Liebe zu einem verschollenen Seemann. Auch dieses Buch erzählt von einer verschollenen, verlorenen Liebe, von deren Existenz nur noch die Fotografie berichtet.
Der Ozean, sagt Sara Macel, ist eine perfekte Metapher für die Liebe: ein Ort, an dem die Menschen sich wünschen, wieder jünger zu sein, in dem sie aber auch ertrinken können. Marc Peschke
Sara Macel: „What Did the Deep Sea Say“, Kehrer, Heidelberg, 2022, 102 Seiten, 69 Abbildungen, 36 Euro
| Lieferstatus | Lieferbar |
|---|---|
| Vita | mare-Kulturredaktion |
| Person | mare-Kulturredaktion |
| Lieferstatus | Lieferbar |
| Vita | mare-Kulturredaktion |
| Person | mare-Kulturredaktion |